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"Das Glück kam immer zu mir"

oder: wie der homosexuelle KZ-Häftlings Rudolf Brazda den Naziterror überlebte Der heute 97-jährige Rudolf Brazda ist der wahrscheinlich letzte lebende schwule Mann, der den Terror des Naziregimes gegen Homosexuelle und die Internierung in einem Konzentrationslager bezeugen kann. Der deutsche Soziologe Alexander Zinn hat eine Biografie über das Überleben Brazdas im Dritten Reich verfasst. Das Buch ist ein Glücksfall – in mehrfacher Hinsicht. Cover BrazdaZum einen kann sich Rudolf Brazda trotz seines hohen Alters an viele Details seiner Verfolgung erinnern und war auch bereit darüber zu sprechen, was angesichts der erlittenen Demütigungen und Grausamkeiten nicht selbstverständlich ist. Zudem wurden schwule Männer lange nicht als Opfer des nationalsozialistischen Terrors anerkannt, sowohl in Österreich als auch in Deutschland wurden Homosexuelle auch in den neu erstandenen Demokratien weiter verfolgt und drangsaliert, marginalisiert und als Verbrecher behandelt. Als Brazda 2008 erfährt, dass in Berlin ein Denkmal für die homosexuellen Opfer des Nationalsozialismus eröffnet werden soll, will er unbedingt dabei sein. Die Eröffnung versäumt er zwar, aber einen Monat später ist er zu Gast beim Berliner Bürgermeister Wowereit. Das hätte er sich in den schwersten Stunden seines Lebens im Konzentrationslager Buchenwald nicht träumen lassen, dass ihm einmal ein offen schwuler Bürgermeister die Hand schütteln würde und dass sich ein junger Wissenschaftler auf den Weg macht, sein Leben aufzuzeichnen. Dabei hat Alexander Zinn zusätzliches Glück, denn neben den Erinnerungen Rudolf Brazdas, die nach mehr als 60 Jahren natürlich in vielen Details verschwommen sind, findet Zinn in deutschen und tschechischen Archiven die Strafakten Brazdas, mit denen er einerseits dessen Erzählungen auf ihren Wahrheitsgehalt überprüfen kann und anderseits viele Leerstellen, Erinnerungslücken und biografische Details auffüllen kann. Ein weiterer Glücksfall ist es, dass Brazdas Lebensgeschichte nicht nur von einem genau recherchierenden Wissenschaftler beschrieben wird, sondern von einem Autor, der es auch versteht spannend zu erzählen, ohne in reißerische oder mitleidheischende Prosa zu verfallen. Rudolf Brazda wurden 1913 als Kind tschechischer Einwanderer in einem heute thüringischen Dorf geboren und erlebte sich als Kind schon irgendwie „anders“. Er liebte den Tanz, verkleidete sich gerne und entdeckte bald, dass sein sexuelles Interesse ausschließlich Männern galt. Als dieses erwachte, diskutierte man in der Weimarer Republik noch die Abschaffung des §175, der zu diesem Zeitpunkt nur beischlafähnliche Handlungen zwischen Männern bestrafte. Die politische Radikalisierung und der Aufstieg der Nationalsozialisten sollte diese kurze Phase relativ sorglosen schwulen Lebens bald zunichte machen. Mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten in Deutschland im Jahr 1933 hofften viele Schwule weiter auf entspannte Zeiten, war doch einer der wichtigsten Gefolgsleute Adolf Hitlers, SA-Chef Ernst Röhm, als Homosexueller bekannt. Mit der Ermordung Röhm 1934 werden sich diese Hoffnungen in Luft auflösen. Heinrich Himmler gibt nun den Ton an und dieser ist besessen homophob. Wie einen Krimi erzählt Alexander Zinn, wie sich die Schlinge der Verfolgung langsam um Rudolf Brazda und seinen schwulen Freundeskreis in der thüringischen Provinz zuzieht. Eine strafrechtliche Verschärfung nach der anderen folgt, ohne dass die Betroffenen wirklich erkennen, welche Gefahr ihnen plötzlich droht. Dabei kommt Zinn ein Aktenfund zugute. 1937 gerät der Freundeskreis um Brazda in die Fänge rabiater Nazikarrieristen in der thüringischen Justiz, ein Kettenprozess mit mehreren Verurteilten ist die Folge. Aus den erhaltenen Prozessakten kann Zinn den gesamten Ablauf, von den ersten Hinweisen und Anzeigen bei der Polizei, den Ermittlungen und den Prozess rekonstruieren. Als „Ersttäter“ kommt Rudolf Brazda noch relativ glimpflich davon, als tschechischer Staatsagehöriger wird er nach der verbüßten Haftstrafe allerdings ausgewiesen und geht ins nahe Karlsbad, das er mit seinem Geliebten Werner besucht hatte. Werner wird er nie wieder sehen. Als deutscher Staatsbürger wird er zur Wehrmacht eingezogen, 1943 verliert sich seine Spur in Rumänien. Im tschechischen Karlsbad, der ehemals mondänen Kurstadt der Donaumonarchie, findet der hübsche und leutselige Rudolf rasch wieder Anschluss an schwule Freundeskreise, hier gilt mit dem §129 noch das alte österreichische Strafrecht, das ursprünglich weit strenger war als das ehemals preussische. Doch hatten die Nationalsozialisten bereits 1935 das Strafrecht für das deutsche Reich verschärft, nun waren alle Handlungen (selbst Flirten) pönalisiert und bei Wiederholungstätern war die Einlieferung in ein Konzentrationslager vorzunehmen. Mit dem Einmarsch der Nationalsozialisten ins Sudentenland und der Besetzung Rest-Tschechiens, das zum Protektorat Böhmen und Mähren wird, ändert sich die Bedrohungslage für Rudolf Brazda, seinen neuen Geliebten Toni und den neuen Freundeskreis schlagartig. Hatte man in der alten Kurstadt – wohl auch im Interesse der zahlungskräftigen Gäste – auf eine zielgerichtete Verfolgung Homosexueller verzichtet, beginnt nun die Maschinerie der Nationalsozialisten zu laufen und Rudolf gerät erneut ins Visier der Ermittler. Wieder wird der komplette Freundeskreis ausgehoben und wieder kann Alexander Zinn den genauen Ablauf anhand erhaltener Akten mit den Erinnerungen Brazdas, die über weite Strecken sehr genau sind, ergänzen. Diesmal nützt es Rudolf nichts, dass er kein deutscher Staatsbürger ist, er ist außerdem Wiederholungstäter und damit für die Nazis der gefährlichen Kategorie der „Verführer“ zuzurechnen, denen die härteste Strafe gebührt: vierzehn Monate Haft und anschließende Einweisung ins Konzentrationslager. In ihren kruden, wenn auch nicht neuen Vorstellungen über Homosexualität teilten die Nazis Schwule in zwei Gruppen: die „Verführten“ und die „Verführer“. Wie Zinn richtig anmerkt, ging es den Nazis nicht in erster Linie um die Vernichtung aller Homosexuellen sondern und die Ausmerzung der Homosexualität. Dies meinten sie zu erreichen, wenn sie die unverbesserlichen „Verführer“ ausschalteten, die sich an Männer heranmachten, um sie mit dem „Virus“ Homosexualität zu infizieren. Als „Verführer“ galt, wer mindestens zwei Mal wegen § 175 verurteilt worden war. Wer sich aus der Sicht der Nationalsozialisten nicht „bessern“ konnte oder wollte, musste daher mit der Einlieferung in ein Konzentrationslager rechnen. Dort konnte er keine weiteren Männer „vergiften“, dort wurden die Unverbesserlichen „durch Arbeit vernichtet“. Rudolf wurde ins KZ Buchenwald eingeliefert. Als erstes musste er sich den „rosa Winkel“ an seine gestreifte Häftlingskleidung nähen. Dieser kennzeichnete ihn als Gefangenen, der auf einer der untersten Stufen der Häftlingshierarchie stand. „Rosa Winkel“-Häftlinge wurden in Buchenwald grundsätzlich der Strafkompanie Steinbruch zugeteilt, was den meisten innerhalb kurzer Zeit das Leben kostete. Erschöpft, verhungert oder von den Kapos und der SS misshandelt und in den Tod getrieben – Rudolf sah keinen Ausweg. Doch er hatte Glück: ein kommunistischer Kapo, der wegen seiner Grausamkeit gefürchtet war, nahm sich des zarten, hübschen Jungen an und machte ihn – obwohl selbst heterosexuell – zu seinem „Puppenjungen“. Für sexuelle Dienste erhielt Rudolf Extrarationen Essen und wurde auch bald von der Strafkompanie in eine andere Abteilung versetzt. Als gelernter Dachdecker war er eine gesuchte Fachkraft und konnte so, wieder unter dem Schutz eines Kapos, über drei Jahre im KZ Buchenwald überleben. Die Grausamkeiten und Gewaltexzesse der Nazischergen, die Häftlinge, die im Krankentrakt verschwanden und nie wieder auftauchten (weil sie zu medizinischen Versuchen missbraucht oder einfach „abgespritzt“ – mit Gift ermordet – wurden), das Bild des Geliebten, den er tot – nackt und misshandelt – auf einem Leichenberg wiederfand, gruben sich tief ins Gedächtnis von Rudolf Brazda ein. Nach der Befreiung ging er mit seinem „Freund“, dem heterosexuellen Fernand, mit dem ihm im KZ eine lebensrettende Freundschaft verband, ins französische Elsass, in dem Homosexualität nicht strafbar war (in Deutschland blieb hingegen der §175 in seiner verschärften Nazifassung bis 1969 gültig). Aus einem gemeinsamen Leben mit Fernand wurde nichts, doch lernte der lebensbejahende Rudolf mit Edi bald einen neuen Mann fürs Leben kennen, mit dem er mehr als 50 Jahre Haus und Bett teilte, bis dieser 2003 verstarb. Obwohl bereits 95 machte Rudolf Brazda einen weiteren mutigen Schritt und ging mit seiner Lebensgeschichte in die Öffentlichkeit. Und wieder hatte er Glück: Er fand in Alexander Zinn einen Biografen, der nicht nur eine seriös recherchierte Lebensbeschreibung vorlegt, sondern auch ein erschütterndes und berührendes Dokument eines fast 100-jährigen Lebens, in dem sich die Geschichte schwuler Männer und ihrer Verfolgung spiegelt.

Alexander Zinn: „Das Glück kam immer zu mir“. Rudolf Brazda – das Überleben eines Homosexuellen im Dritten Reich. Frankfurt: Campus 2011. 356 Seiten, € 25,60

Erhältlich bei Buchhandlung Löwenherz

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