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Gott des Tanzes

Über die Annäherung an den Mythos Nijinsky. Ein neues Buch der deutsch-französischen Autorin Petra van Cronenburg. Gelesen von Andreas Brunner Es ist eigentlich erstaunlich, dass es über den Gott des Tanzes, wie Vaslav Nijinsky schon zu Lebzeiten genannt wurde, nur ein deutschsprachiges Buch gibt. Weder die Biografie seiner Frau Romola noch seine Tagebücher sind lieferbar, für den renommierten Suhrkamp Verlag offenbar kein Geschäft mehr. Dabei ist Nijinsky abseits seines Genies als Tänzer eine Schlüsselfigur der Moderne, wie Petra van Cronenburg in ihrer wunderbar lesbaren Annäherung an seinen Mythos darlegt.

Faszination Nijinsky besteht aus drei unterschiedlichen Teilen. Im ersten und umfangreichsten wird die Biografie Nijinskys erzählt, die beiden letzten sind Gespräche mit dem Choreografen Ralf Rossa und dem Kunsthistoriker und Kurator Michael Braunsteiner. Hat man heute ein Bild von Nijinsky in Kopf ist es jenes eines durchtrainierten jungen Tänzers in hautengem Trikot mit schwarzen Flecken, der in grotesk anmutender Körperhaltung in Pose steht – Nijinsky als Faun aus seiner bahnbrechenden ersten Ballettchoreografie L’après-midi d’un faune (Nachmittag eines Fauns). Aber bis zu diesem Image, das wir heute von ihm haben, wird es für Nijinsky ein entbehrungsreicher Weg werden. Durch die harte Schule der St. Petersburger Tanzakademie gegangen beeindruckte Nijinsky schon früh durch seine außerordentliche Sprungkraft und verbissene Ausdauer. Für den scheuen von Minderwertigkeitskomplexen geplagten Tänzer bedeutete die Begegnung und Beziehung mit dem offen homosexuellen Impressario Sergej Diaghilew die entscheidende Wende in seinem Leben. Diaghilew machte Nijinsky als Tänzer seiner Ballets Russes in wenigen Jahren zu einem Weltstar. Dem Gott des Tanzeslag die Welt zu Füßen. Doch der wollte mehr, vor allem nicht die Welt zu Füßen, sondern Tanz als Ausdruck des Lebens, des Begehrens, Tanz als neue Sprache. Nijinsky, zurückhaltend aber offen, nutzte das intellektuelle Umfeld, das ihn Diaghilew bot, in dessen Salons tout l’Europe ein und aus ging. Bei Petra van Cronenburg ist nachzulesen, wie Nijinsky die neuesten Entwicklungen der Avantgarde in Europa quasi aufsaugte. Er bewegte sich in einem brodelnden kreativen Milieu, das den vom Tanz manisch Besessenen in der Entwicklung seiner Ideen antrieb. Und Diaghilew sollte seinem Star die Chance zur Umsetzung seiner eigenen Ideen geben. Zur Musik von Claude Debussy choreografierte Nijinsky seinen Nachmittag eines Fauns, der zuerst einen veritablen Theaterskandal hervorrufen und gleichzeitig Theatergeschichte schreiben sollte. Ausführlich beschreibt Petra van Cronenburg den Ablauf dieses Abends nach originalen Quellen und schafft es dabei auch einem Tanzlaien verständlich zu machen, warum Nijinskys Faun einer Neuerfindung des Balletts gleichkam, wie es Nijinsky schaffte, eine zutiefst im historistischen Mief des 19. Jahrhunderts verhaftete Kunstform quasi in die Moderne zu beamen. Voll sexueller Anspielungen – es will Zeugen gegeben haben, die sahen, dass Nijinsky bei der Uraufführung sogar onaniert – entwickelte Nijinsky eine völlig neue Tanzsprache, artifiziell, körperbetont, den Körper aber auch als abstrahierten Teil eines Gesamtkunstwerkes einsetzend.

Petra van Cornenburg schildert Nijinskys kurzes künstlerisches Leben als ständige Suche nach neuen Ausdrucksmöglichkeiten, wie sich seine Tanzsprache von moderner Kunst beeinflusst immer stärker der Abstraktion annäherte. Diese Suche war immer wieder von Krisen gezeichnet, zu einem ernsten Zusammenbruch kam es aber nach Diaghilews Bruch mit seinem Star, nachdem dieser auf einer Brasilien Tournee die ungarische Tänzerin Romola de Pulszky geheiratet hatte. Damit war Nijinsky aus Diaghilews kreativem Umfeld ausgeschlossen, auf sich allein gestellt und der besitzergreifenden Romola ausgeliefert. Nach einer zweijährigen Internierung in ungarischer Kriegsgefangenschaft holte ihn ein versöhnlicher Diaghilew zu einer Tournee in die USA, wo Nijinsky auf Charlie Chaplin traf, der nachhaltig von der Körpersprache des Tänzers beeindruckt war. Aber auch die psychischen Probleme nahmen zu. Nijinsky zog sich mehr und mehr zurück und wurde von einem Fall für die Kunstwelt zu einem der Psychiatrie. Auch diesen Weg zeichnet Petra van Cronenburg spannend nach, nicht ohne auf die drastischen Methoden der Psychiatrie jener Zeit zu verweisen, die aus heutiger Sicht wohl mehr Schaden anrichteten als Heilung brachten. Aber auch Romolas Rolle in der Zeit seiner Psychiatrierung wird dabei deutlich. Was aber Petra van Cronenburgs biografische Annäherung an den Mythos Nijinsky besonders macht, ist dass sie nicht bei der künstlerischen Biografie des Tänzers stehen bleibt. Von vielen bereits in die „geistige Umnachtung“ abgeschrieben, schuf Nijinsky in einem fast manisch kreativen Schub eine Fülle von Zeichnungen, die als Fortsetzung seines tänzerischen Weges in die Abstraktion zu lesen sind und als letzte künstlerische Äußerung vor dem Verstummen seine Tagebücher, die nicht nur persönliches Dokument sondern auch ein literarisches Zeugnis sind. Es ist schade, dass Faszination Nijinsky zwar mit zahlreichen Rollenbildern aus den Balletten Nijinskys illustriert ist, aber keines seiner Bilder zu sehen ist. Denn nach einem Gespräch mit dem Choreografen Ralf Rossa über die Frage, was heute noch Tänzer an Nijinsky fasziniert, wendet sich Petra van Cronenburg mit Michael Braunsteiner einem spannenden Diskurs über Kunst/Genie und Wahnsinn zu, in dem der Kunsthistoriker Parallelen zwischen Nijinsky und Art Brut zieht. Es ist das Verdienst dieses schmalen Bandes, den Gott des Tanzes in einen Zusammenhang mit der Kunst des frühen 20. Jahrhunderts und zentrale Fragen zu stellen, die gerade die Avantgarde rund um den 1. Weltkrieg verhandelte.

Ein QWIEN Lesetipp, nicht nur für Ballettfans: Petra van Cronenburg: Faszination Nijinsky. Annäherung an einen Mythos. Edition Octopus. ISBN: 9783869913629 Das Internet macht’s möglich: Auf der Website der Ausstellung Nijinskys Auge und die Abstraktion“ (2009) sind einige Bilder von Nijinsky zu sehen.

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