Sündiges Berlin
Ein großformatiges Buch mit CD liefert ein vielfältiges Bild des Berlin der 1920er Jahre. Gleich vorweg: So ein Buch würde man sich für Wien wünschen, nur wird man über das „sündige“ Wien dieser Zeit kaum soviel Material finden, wie es Mel Gordon über das Eldorado Berlins zusammengetragen hat. Seinen Ausgang nahm Sündiges Berlin bei einem Theaterprojekt, in dem Nina Hagen die Berliner Skandaltänzerin Anita Berber spielen sollte. Skriptautor und Regisseur Gordon suchte 1994 nach Hintergrundmaterial und wurde vorerst nicht wirklich fündig. Da er sich nicht vorstellen konnte, dass es über die wildesten Jahre Berlins so wenig Material gab, machte er sich auf die Suche – das Ergebnis: lesens- und sehenswert.
Auf der Suche nach Sex, Rausch und Untergang in dieser kurzen Epoche, die bis heute ein großes Faszinosum ist, sammelte Gordon jahrelang alles, was er über das Sexleben in den Goldenen Zwanziger Jahren finden konnte. Dabei beschränkte er sich natürlich nicht nur auf das schwule oder lesbische Berlin, sondern präsentiert eine Vielfalt erotischer und sexueller Ausdrucksformen. Sein Buch ist ein pansexuelles Panoptikum, das Sexualmagie und Okkultismus genauso zum Thema hat, wie das Hurenleben der Stadt, ausgelebten Sadomasochismus oder die Wissenschaft vom Sex, die in diesem Jahrzehnt zwischen den Katastrofen des 1. Weltkriegs und der Machtübernahme der Nazis nicht nur ernstzunehmende Blüten trieb. Nun gibt es ja inzwischen schon eine Reihe von Publikationen über das ausschweifende Berliner Leben in den Roaring Twenties, über die Hauptstadt des Sex in Europa, aber Mel Gordons Sündiges Berlin sticht aus diesen durch seine reichhaltige Bebilderung heraus. Umfangreiche Kapitel sind der schwulen und lesbischen Subkultur gewidmet. Gordon macht sich die Mühe und stellt alle bekannten Szenelokale vor, wie lange sie existierten und welches ihr Zielpublikum war. Magnus Hirschfeld und anderen Sexualreformern sind ebenso Kapitel gewidmet wie Transvestismus oder der Erklärung des Szenejargons. Dass es sich bei Puppenjungs um junge Stricher handelt, lässt sich ja noch erahnen, aber dass Breslauer – Männer mit großen Penissen (nach der niederschlesischen Stadt) waren, wäre dem Unkundigen wohl nie in den Sinn gekommen. (Eine Erklärung, warum gutgebaute Männer aus Breslau kommen sollen, bleibt aber auch Mel Gordon schuldig.) Mel Gordon vermeidet jeden wissenschaftlichen Ton, auch wenn man erkennen kann, dass hinter seiner Materialsammlung eine große Rechercheanstrengung steckt. Er erzählt locker und flüssig, so wird sein Sündiges Berlinzu einem wunderbaren Lesebuch über ein Jahrzehnt der Hoffnungen, das in die Katastrofe des Nationalsozialismus mündete. Eine beiliegende CD liefert den musikalischen Hintergrund zu den Genrebildern. Größen der Szene wie Marlene Dietrich, Paul O’Montis, Blandine Ebinger oder Claire Waldoff lassen dabei ihre besten, schlüpfrigen Chansons hören.
Mel Gordon: Sündiges Berlin. Die Zwanziger Jahre: Sex, Rausch, Untergang. Wittlich: Index Verlag 2012 (erhältlich bei Löwenherz)