Der Schwerpunkt der aktuellen Ausgabe der österreichischen Literaturzeitschrift Literatur und Kritik widmet sich „Literatur, Ethik und Medizin“, wir möchten aber zwei Beiträge hervorheben, die am Rande erschienen sind: Einmal der Laudatio, die Vladimir Vertlieb auf die Theodor-Kramer-Preissträgerin 2012, Eva Kollisch, hielt und andererseits dem werkbiografischen Abriss von Volker Bühn über den wiederzuentdeckenden österreichischen Lyriker Alfred Grünewald. Beide verbindet, dass sie vom Terror des NS-Regimes betroffen waren, Kollisch gelang als Jugendliche die rettende Flucht in die USA, die Flucht von Grünewald endete in Südfrankreich, wo er vom Vichy-Regime an die Nazis ausgeliefert und kurz darauf in Auschwitz ermordet wurde. Vertlieb erinnert in seiner Laudatio daran, dass die Erfahrung der Vertreibung das Leben von Eva Kollisch massgeblich geprägt hat. 1925 in Wien geboren gelang ihr mit einem „Kindertransport“ zuerst die Fluch nach England und schließlich nach New York, wo sie noch heute mit ihrer Partnerin, der Dichterin Naomi Replansky, lebt. In den 1950 Jahren war sie mit dem von ihr geleiteten Café Rienzi im Zentrum der Avantgarde im Greenwich Village und engagierte sich schon früh Frauen. und Minderheitenrechte. Wie sehr sie weiterhin eine „Entfremdete“ blieb, zeigt eine Episode, die Vertlieb zitiert. Auf einem Treffen von Holocaustüberlebenden wagte sie es nicht, von ihrer Beziehun zu einer Frau zu sprechen. „Würden sie mich mit anderen Augen ansehen, wenn sie wüssten, dass ich lesbisch bin?“, war ihre Befürchtung. Sie wollte nicht wieder in die Position einer Außenseiterin gedrängt werden und schwieg, obwohl sie sich gleichzeitig für ihr Schweigen schämte. Es war wieder die Angst vor der „johlenden Menge“, die sie aber bei einem anderen Treffen überwand und merken durfte, dass „niemand auch nur mit der Wimper gezuckt hatte“.
Alfred Grünewald konnte schon auf einige veröffentlichte Gedichtbände zurückblicken, als Eva Kollisch das Licht der Welt erblickte. 1925 waren die wichtigsten Teile seines Werkes, die Gedichtbände Sonette an einen Knaben und Renatos Gesang bereits erschienen. Vor allem mit dem ersten der beiden Gedichtzyklen hatte sich Grünewald, wie der Autor des werkbiografischen Aufsatzes, Volker Bühn, betont, ziemlich weit aus dem Fenster gelehnt, denn „der Zyklus bestand zwar aus zarten, zurückhaltenden, oftmals ins Traumhafte gleitenden Versen, zugleich handelte er vom Liebeswerben eines Mannes um einen Jüngling“. Das war dem Rezensenten der Homosexuellenzeitschrift Der Eigene zu „sublimiert“, andere behielten den Autor im Auge, wie ein 14 Jahre später erscheinender Artikel im antisemitischen Hetzblatt Der Stürmer belegt. Volker Bühn und seiner ausgedehnten Recherche, bei der er auch bislang unbekannte und unpublizierte Werke von Grünewald aufspürte, ist es zu verdanken, dass sich ein ganz neues Bild vom Leben, Werk und Sterben Grünewalds erschließt. Seine Darstellung ist die bislang umfangreichste zu diesem vergessenen Dichter der österreichischen Literaturgeschichte. Da Grünewald schon zu Lebzeiten mit seinem Beharren auf klassischen Gedichtformen und einer oft ans Altertümelnde anklingenden Sprache ein Unmoderner war, waren auch diverse Wiederentdeckungsversuche in der Nachkriegszeit, hier vor allem durch Oskar Jan Tauschinski, von wenig Erfolg gekrönt. Vielleicht gelingt es mit dem Wissen, das Volker Bühn über den Dichter gesammelt hat, Grünewalds Platz in der österreichischen Literaturgeschichte neu zu bewerten. Am 9. September 2012 jährt sich der Jahrestag von Grünewalds Ermordung im Konzentrationslager Auschwitz zum 70. Mal. Literatur und Kritik Nr. 465/466, Juli 2012; Otto Müller Verlag Salzburg