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Homosexualität und Kriminalstatistik

Die Redaktion der neuesten Ausgabe von Invertito, dem Jahrbuch für die Geschichte der Homosexualitäten, urteilte richtig, dass der Aufsatz des Grazer Historikers Hans-Peter Weingand mitnichten eine „trockene Zahlenwüste“ sei. Vielmehr besticht er durch eine glänzende Interpretation der überlieferten Zahlen. Der Titel des Aufsatzes klingt tatsächlich trocken: Homosexualität und Kriminalstatistik in Österreich. Dahinter birgt sich aber eine in dieser Fülle und Dichte bislang nicht zu lesende Zusammenstellung unterschiedlicher und oft auch entlegener Quellen aus dem Jahren 1876 bis 2002 und deren oft gar nicht so leichte Interpretation, da die Daten über den Zeitraum von mehr als 100 Jahren weder von einer zentralen Stelle noch in einheitlicher Form gesammelt wurden. Deutlich zeigt sich aber aus den Zahlen, dass in Österreich seit dem letzten Viertel des 19. Jahrhunderts die Verfolgungsintensität im internationalen Vergleich enorm hoch war, was an dem sehr offen gehaltenem Unzuchtsbegriff des § 129Ib, der Unzucht wider die Natur mit Personen desselben Geschlechts pönalisierte, lag. Waren in Deutschland bis zur Verschärfung durch die Nationalsozialisten nur beischlafähnliche Handlungen unter Männern strafbar, wurde der österreichische Paragraf mit Hilfe von Urteilen des Obersten Gerichtshofs jeweils den zeitgenössischen gesellschaftlichen Vorstellungen über Homosexualität und deren Strafwürdigkeit (oder den persönlichen Vorstellungen des Richters) angepasst, und er bezog auch grundsätzlich weibliche Homosexualität ein. Die Verurteilungszahlen von Frauen bewegen sich in all dem Jahrzehnten um oder unter der 5%-Marke, das Gros der Verfolgung betraf also Männer, wobei sich aus der Detailanalyse der überlieferten Daten ein Bild bestätigt, das schon Einzeluntersuchungen etwa zur Verfolgung von Homosexuellen in der NS-Zeit in Oberösterreich oder der Steiermark ergeben haben: Unter den Angeklagten waren zu einem deutliche höheren Prozentsatz Männer aus den unteren sozialen Schichten betroffen.

Der homosexuelle Kinderschänder

Den Detailreichtum vom Hans-Peter Weingands Studie kann eine Besprechung schwer nachvollziehen, weshalb ich einige besondere Eckpunkte herauslösen möchte. Ein umfassender Abschnitt widmet sich einem – fast möchte man sagen – perversen Detail der österreichischen Rechtsordnung. Der § 128 des alten Strafgesetzes bestrafte „Schändung“, den sexuellen Missbrauch von Unmündigen (also Kindern bzw. Personen unter 14 Jahre), wenn – und Karl Kraus sprach schon 1905 in diesem Zusammenhang von einem „törichten Wenn-Satz“ – „wenn diese Handlung nicht das im § 129, lit. b) bezeichnete Verbrechen bildet“, was im Klartext heißt, dass alle Fälle von Kindesmissbrauch in den Statistiken als Unzucht wider die Natur gezählt wurden, da Männer, die Kinder missbrauchten, eben nicht nach dem „Schändungsparagrafen“ 128, sondern als „Homosexuelle“ verurteilt wurden. Der Anteil dieser Verurteilten war beträchtlich, was vor allem in der Nachkriegszeit in der Diskussion um die Abschaffung des „Totalverbot“ weitreichende Folgen hatte. Dazu muss man wissen, dass zahlreiche Statistiken zu Sexualdelikten von Roland Graßberger, von 1946 bis 1975 Vorstand des Instituts für Strafrecht und Kriminologie und 1962/63 auch Rektor der Universität Wien, verfasst und interpretiert wurden. Er prägte mit seinen Gutachten maßgeblich „das Bild des homosexuelle Kinderschänders“, indem er statistisch untermauerte, dass der „männliche Homosexuelle, gleichgültig welchen Alters, […] in erster Linie kindliche und jugendliche Partner von 12-19 Jahren“ sucht. Erst 1971 stellte Graßberger klar, dass es „bei der ‚Belastung durch Paidophilile‘ bei den Homosexuellen bzw. Heterosexuellen ‚keinen signifikanten Unterschied‘ gebe“. Das zeigt aber auch, wie stark die Interpretation der statistischen Daten durch Graßberger ideologisch gefärbt war, der offen bekannte, „ein Gegner der Homosexualität im ganzen zu sein“.

Täglich eine Verurteilung

Neben vielen anderen interessanten Details bringt Weingands statistische Studie auch interessante Ergebnisse zu den Orten, an denen die Taten begangen wurden und hier vor allem eine statistisch signifikante Bestätigung der Unterschiede zwischen Männern und Frauen, die zeigt, dass Männer öfter an öffentlichen Orten (Parks, WC-Anlagen, etc.) der „unzüchtigen Betätigung“ nachgingen, Frauen hingegen private Räume bevorzugten. Dass auch nach der Abschaffung des Totalverbots 1971 mit den vier neu geschaffenen Sonderparagrafen 209, 210, 220 und 221 die Strafverfolgung eine Fortsetzung fand zeigt Weingands Auswertung der Kriminalstatistiken der Jahre bis 2002, dem Jahr der Einstufung des letzten verbleibenden § 209 durch den Verfassungsgerichtshof als verfassungswidrig. Abschließend zieht Hans-Peter Weingand über die Verfolgung Homosexueller in Österreich eine ernüchternde Bilanz: von 1922 bis 2002 wurden „fast 26.500 Verurteilungen durch die Kriminalstatistik dokumentiert. Bei 81 Jahren entspricht dies etwa einer Verurteilung pro Werktag.“ Natürlich sollte über dieser ausführlichen Würdigung des Aufsatzes von Hans-Peter Weingand nicht vergessen werden, dass der 13. Jahrgang von „Invertito“ auch eine Reihe weiterer interessanter Beiträge bringt, so einen Beitrag von Claudia Schoppmann über lesbische Jüdinnen in der NS-Zeit, die versucht haben, als U-Boote der Ermordung zu entkommen, eine Forschungsarbeit, die in Österreich von Ines Rieder betrieben wird. Oder eine Skandalgeschichte aus dem Jahr 1930, in der lesbische Liebe mit Kleptomanie in Verbindung gebracht wird. Das gesamte Inhaltsverzeichnis ist übrigens auf der Website des Männerschwarm Verlags abrufbar. Invertito 13/2011 (erhältlich bei Löwenherz)

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