Alain Guiraudies neuer Film Der Fremde am See/L’inconnu du lac ist einer der wichtigsten schwulen Filme der letzten Jahre – und einer der düstersten auch.
Der See glitzert in der Sonne, der Wald rauscht und nackte Männer lassen ihre Blicke schweifen. Eine vermeintliche Idylle, denn bald wird ein Verbrechen in diese abgeschlossene Welt eindringen. Franck (Pierre Delandonchamps), um die Dreissig, attraktiv und Single, kommt täglich zum See, er hat Zeit, ist derzeit ohne Beschäftigung; er hat früher auf einem Markt gearbeitet. Recht viel mehr wird man über ihn im Laufe des Films auch nicht erfahren. Die Ankunft am Parkplatz, der Gang durch den Wald zum See, die Ankunft am Schotterstrand und die Blicke der Männer auf das ankommende Frischfleisch erzählt Giuraudie wie ein nach festen Regeln ablaufendes Ritual, das diese abgeschlossene Welt am See bestimmt.
Knirschender Sand unter den Reifen der ankommenden Autos, der Wind, einmal sanft und mild, ein anderes Mal aufbrausend und bedrohlich, das Plätschern des Wassers – eine Sinfonie aus Tönen und Geräuschen kontrastiert mit den stummen Begegnungen der Männer, wenn sie nach Runden durch den Wald einen passenden Sexpartner gefunden haben. Nur mit Henri (Patrick d’Assumçao), einem nicht sonderlich attraktiven Mann mit rundem Bauch, der immer abseits und nie nackt am Strand sitzt und aufs Wasser schaut, wird Franck etwas mehr als banale Alltäglichkeiten austauschen. Mit ihm, den er nicht begehrt und der offenbar auch von ihm keinen Sex will, weil er zumindest behauptet heterosexuell zu sein, wird Franck ins Gespräch kommen.
Gespräche übers Begehren
Ihre Gespräche über Begehren, Sehnsüchte und Einsamkeit am See wirken wie der kommentierende Chor aus der griechischen Tragödie zum wortlosen sexuellen Verkehr der Männer in den Büschen, denn der rituelle Charakter der Erzählung verdichtet das Geschehen zu einem Drama, aus dem es für die Figuren kein Entrinnen mehr gibt. Als ein Mord passiert, kippt die schwule Idylle unversehens in einen Thriller, der die Kritik abwegigerweise immer wieder an William Friedkins Schwulen-Schocker Cruising aus den 1980er Jahren erinnerte. Vielleicht wegen des Darstellers von Michel (Christophe Paou): der durchtrainierte, schnauzbärtige Schwimmer hätte als Stereotyp eines Pornostars der 1970er/80er Jahre auch in Cruising mitspielen können.
Er ist Francks Objekt der Begierde. Ihm, der jede persönliche Auskunft verweigert, der Francks Sehnsucht nach einer auf Sex basierenden Beziehung kühl abblockt, gibt sich Franck bedingungslos hin und verzichtet dabei bewusst auf Safer Sex. Dass Michel auch seinen Geliebten, Francks Vorgänger ermordet hat, weiß nur er, ahnt aber auch der ermittelnde Kommissar, der fragend durch die Büsche streift. Aber er interessiert sich nicht nur für den Verdächtigten Michel, er fragt Franck unumwunden, was hier eigentlich los sei, wie die Schwulen nach einer kurzen Schrecksekunde wieder zur sexuellen Tagesordnung übergehen können, als ob nichts geschehen sei. Warum interessiert sich niemand für das Opfer? Wie stehe es um schwule Solidarität? Fragen, die Franck nur ein Schulterzucken entlocken und das Publikum nachhaltig verstören, nicht nur das heterosexuelle, dem diese abgeschlossene Welt der Schwulen fremd sein mag. Auch viele schwule Männer reagieren, wie Reaktionen nach der Viennale Premiere im Gartenbau Kino zeigten, auf Guiraudies schonungsloses Porträt einer schwulen Sexkultur verschnupft.
Düsteres Bild vom schwulen Sex
Ob sein düsteres Bild und manchen klischeehaft vorkommende Darstellung sexgesteuerter schwuler Männer nicht der Emanzipation schaden könne, wurde der Regisseur beim Publikumsgespräch gefragte. Er mache keine Werbefilme, meinte Guiraudie pointiert und außerdem bilde er die Wirklichkeit nur treu ab. Auch wenn dieses Porträt nicht schön ist, wer einmal den Toten Grund auf der Wiener Donauinsel besucht hat, muss bekennen, dass Guiraudie weiß, wovon er spricht. Das sei auch der große Unterschied zu Cruising, erläuterte Guiraudie, dort machte der heterosexuelle Regisseur Friedkin einen spekulativen Film über die schwule Subkultur, hier stehe er, ein schwuler Regisseur, der den Ausschnitt aus der schwulen Lebenswelt, den er seziert, aus eigener Erfahrung genau kennt.
Und außerdem merke man in jeder Szene von Cruising, dass Al Pacino nicht gerne Männer küsst. Diese Zurückhaltung kennt Guiraudie nicht. Im Gegenteil, er erregte schon bei der Präsentation in Cannes mit seinen deutlichen Sexszenen Aufsehen und Ablehnung. Aber auch Bewunderung, denn er erhielt einen der wichtigsten Preise des Festivals: Beste Regie in der Sektion Un certain regard. Zu recht. Denn der Fremde am See stellt unangenehme Fragen: Was ist das für eine Welt, in der intimste Beziehungen anonym bleiben, in der sich Keiner für das Schicksal des Anderen interessiert? Was treibt Franck an? Ist seine Angst vor der Einsamkeit stärker als die vor dem Tod?
Diskussion
Fragen, die wir auch bei einer Spezial-Vorstellung des Films am 4. Dezember im Stadtkino im Künstlerhaus diskutieren möchten. Nach der Vorstellung spricht Andreas Brunner (QWIEN) mit Ernst Silbermayr, Psychologe und Psychotherapeut, im Vorstand der kritischen Psychologinnen und Psychologen (GkPP), und Dominik Schibler, Präventionsmitarbeiter für MSM (Männer, die Sex mit Männern haben) der Aids Hilfe Wien, über die dunklen Seiten schwuler Sexualität.
Im Vorfeld des regulären Kinostarts von Der Fremde am See/L’inconnu du lac ab 29. November zeigt das Wiener Filmhaus Kino im Zusammenarbeit mit der Zeitschrift Kolik film, die eine Spezialnummer über das Werk von Alain Guiraudie präsentiert, zwei frühere Filme des eigenwilligen, französischen Regisseurs. Den wunderbar skurrilen König der Fluchten/Le roi de l’evasion (2009) und das Frühwerk Keine Ruhe für die Helden/Pas de repos pour les braves (2003)
4. 12., 19.15 Uhr
Der Fremde am See/L’inconnu du lac
Stadtkino im Künstlerhaus
1., Karlsplatz/Akademiestraße 13
Im Anschluss: Gespräch Andreas Brunner (QWIEN) mit Ernst Silbermayr und Dominik Schibler
19.11, 21.00 Uhr
König der Fluchten/Le roi des l’evasion
Filmhauskino am Spittelberg
7., Spittelberggasse 3
26. 11., 21.00 Uhr
Keine Ruhe für die Helden/Pas de repos pour les braves
Filmhauskino am Spittelberg
7., Spittelberggasse 3
Info zu beiden Filmen.