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Queere Lektüren

Im renommierten Kulturwissenschafts- und Literaturverlag Wallstein erschienen die ersten Bände der Hirschfeld-Lectures.
Nachdem der Deutsche Bundestag 2002 die Urteile gegen in der NS-Zeit verfolgte Homosexuelle aufgehoben hatte (Österreich folgte 2009), begann in Deutschland auch eine Debatte über Wiedergutmachung, die bei dieser Opfergruppe besondere Voraussetzungen hatte. Zu diesem Zeitpunkt (egal ob 2002 oder 2009) waren praktisch alle Opfer tot und nur ein kleiner Teil hatte Nachkommen oder Erben. So entschied sich der deutsche Bundestag nach langen und heftigen Debatten zur Errichtung einer Stiftung im Namen des von den Nazis verfolgten Sexualwissenschafters Magnus Hirschfeld. Dessen Institut für Sexualwissenschaft wurde schon 1933 im Zuge der Bücherverbrennung Opfer der nationalsozialistischen Zerstörungswut.
Als Akt der Wiedergutmachung an den nicht entschädigten homosexuellen Opfer des NS-Terrors wurde die Bundesstiftung Magnus Hirschfeld mit 10 Millionen Euro Kapital ausgestattet, um damit Projekte zu fördern, die die gesellschaftliche Lebenswelt von Lesben, Schwulen und Transgender erforschen, Bildungs- und Öffentlichkeitsarbeit fördern, um Diskriminierung von Homosexuellen in Deutschland entgegenzutreten. Damit soll auch die Erinnerung an die Nazi-Verbrechen an Homosexuellen und an Leben und Werk des Namensgebers der Stiftung wachgehalten werden. Seit ihrer Gründung 2012 hat die Stiftung bereits 33 Projekte mit fast 80.000,- Euro gefördert. Eines dieser Projekte sind die Bände der Hirschfeld-Lectures.
Erste Projekte
Breit gefächert werden die Themen der Reihe sein, wie schon die ersten beiden Bände zeigen, die nur eine inhaltliche Bezugnahme auf Magnus Hirschfeld verbindet. Dagmar Herzog, Professorin für die Geschichte von Sexualität, Gender und Holocauststudien in New York, widmet sich Paradoxien der sexuellen Liberalisierung und durchmisst in dem 48-Seiten schmalen Band deutsche Sexualitätsgeschichte vom Ende des Ersten Weltkriegs bis in die Bundesrepublik. Sie hebt dabei die Pionierstellung Hirschfelds und sein aus heutiger Sicht modernes Sexualverständnis hervor, das Trans*identitäten schon immer inkludierte. Dabei ist Hirschfeld kein makelloser Held, sind doch seine zu seiner Zeit weitverbreiteten Ansichten zur Eugenik etwa aus heutiger Sicht ausgesprochen fragwürdig.
Neben Hirschfeld widmet sich Herzog auch Johanna Elberskirchen, die in ihrer von den Nationalsozialisten zur „schändlichen und unerwünschten“ Literatur erklärten Schrift Die Liebe des Dritten Geschlechts die Normalität von Heterosexualität hinterfragte. Beide arbeiteten auch in der Weltliga für Sexualreform zusammen, ihre Vorstellungen über Sexualmoral und -recht strahlten weit über den deutschen Raum hinaus. Große Teile der Bevölkerung profitierten von den gelockerten sexuellen Moralvorstellungen, Sexualität sollte das Verbotene genommen werden, sollte Spaß machen. Die Nationalsozialisten begannen sofort nach der Machtübernahme 1933 in Union mit kirchlich-konservativen Kreisen mit einer Diffamierungskampagne gegen die aus ihrer Sicht „jüdisch“ dominierte Sexualreformbewegung. Auf längere Sicht traten sie aber zur Enttäuschung für die Kirchen für eine lockere Sexualmoral ein, so wurde etwa vorehelicher Sex enttabuisiert. Diese Öffnung erfolgte aber auf Kosten des Ausschlusses aller, die aus NS-Sicht deviant waren. Dagmar Herzog formuliert es so:
„Die Nazis haben, paradox aber geschickt, die weit verbreitete Sehnsucht nach sexueller Beglückung umgedeutet in das Privileg der rassisch und ideologisch genehmen nichtbehinderten Heterosexuellen (das Gros der Bevölkerung).“
Es erscheint auch paradox, dass ein biologistisch ausgerichtetes Regime wie der Nationalsozialismus gerade die biologische Entstehung von Homosexualität strikt ablehnte – „Homosexualität ist keine Erbkrankheit“ hieß es in einer offiziellen Schrift der Rassenpolitischen Amts. In einer durch und durch von heteronormativen Vorstellungen geprägten Gesellschaft erscheint Heterosexualität als außerordentlich fragil: Denn die sexuelle Orientierung sei gerade bei jungen Männern fließend, zitiert Herzog den Sexualethiker Theodor Haug. Um so stärker musste man sich von den Anderen, den Homosexuellen, abgrenzen. Dazu nutzte man auch das Stereotyp des homosexuellen Verführers, das nur konstruiert werden konnte, wenn man von einer nicht festgelegten heterosexuellen Ausrichtung ausging. Paradox findet Dagmar Herzog auch, dass in der Nachkriegszeit zwar das NS-Konstrukt von Homosexualität wie auch die verschärften Strafbestimmungen gegen sie übernommen wurden, aber mit der Durchsetzung einer restriktiven Sexualmoral versucht wurde, sich von der „liberalen“ NS-Zeit abzugrenzen. Gerade auch die Vorstellungen über den homosexuellen Verführer wurden in den 1950er Jahren als Argument gegen eine Liberalisierung des § 175 herangezogen.
Hommage an Hirschfeld
Als Hommage an Magnus Hirschfeld kann man den zweiten Band der Reihe lesen, den der Berliner Professor für deutsche Literatur des Mittelalters, Andreas Kraß, verfasst hat: „Meine erste Geliebte“ Magnus Hirschfeld und sein Verhältnis zur schönen Literatur. Er beleuchtet damit einige wenig bekannte Facetten in Leben und Werk des Sexualwissenschafters. Hirschfeld, der die Dichtung einmal als seine „erste Geliebte“ bezeichnet hatte, war zeitlebens mit einer Reihen von Autor_innen befreundet, zu denen homosexuelle wie Kurt Hiller oder Bruno Vogel aber auch die Lyrikerin Else Lasker-Schüler zählten. In einer Umfrage zu seinem 60. Geburtstag erwiesen ihm darüber hinaus prominente Schriftsteller_innen ihre Reverenz: darunter Heinrich und Thomas Mann oder Stefan Zweig. Wenig bekannt ist ebenso, dass sich Hirschfeld auch selbst als Dichter betätigte.
Wie wichtig Hirschfeld Literatur war, zeigen auch die regelmäßigen Besprechungen von belletristischen Neuerscheinungen in den Mitteilungen des Wissenschaftlich-humanitären Komitees, die – einen breiten Bogen spannend – Büchern, die heute Klassiker der deutschsprachigen Literatur sind, wie Thomas Manns Tod in Venedig oder Stefan Zweigs Verwirrung der Gefühle, bis zu Publikationen kleiner Spezialverlage für homosexuelle Belletristik vorstellten. In seinem Hauptwerk Die Homosexualität des Mannes und des Weibes widmete Hirschfeld einer Literaturgeschichte der Homosexualität ein eigenes Kapitel, in dem deutlich wird, dass er die Literatur als Verbündete im Kampf um Straffreiheit, Anerkennung und schlussendlich Gleichberechtigung sah.
Dass Hirschfeld eine Persönlichkeit des öffentlichen Lebens war, sieht man nicht nur an den Medienberichten über seine Tätigkeit sondern auch darin, dass er selbst als literarische Figur Karriere machte und seine Person und seine Thesen literarisch verarbeitet wurden. Und auch hier ist die Palette breit und reicht vom satirischen Hirschfeldlied Otto Reuters über Alfred Döblin in Berlin Alexanderplatz und Die Freundinnen und ihr Giftmord bis zum autobiografischen Werk Christopher Isherwoods. Spannend sind hier vor allem die Querverbindungen, die sich durch die thematische Zusammenstellung ergeben, sowohl was Hirschfelds Betrachtungen über Literatur anbelangt als auch die Rezeption seiner Person und seines Werks in der Literatur.
So unterschiedlich ihre Themen sind, ein weiteres eint die ersten Bände der Hirschfeld-Lectures nach der Lektüre: Beide Autor_innen verstehen es eine interessante Fragestellung in handlichem Format abzuhandeln, akademisch aber nicht zu theoretisch, denn gerade queere Texte pflegen oft eine hermetisch abgeschlossene Sprache, die sie nur noch für Spezialist_innen zugänglich macht. Sie lesen sich kurzweilig, was sie auch für interessierte Lai_innen zu einer gewinnbringenden Lektüre machen, dass sie durchaus auch unterhalten, verbietet sich ja bei wissenschaftlichen Texten zu erwähnen. Man darf gespannt sein, ob die weiteren Bände diese Balance halten werden.
Dagmar Herzog: Paradoxien der sexuellen Liberalisierung. Göttingen: Wallstein 2013 (=Hirschfeld-Lectures 1), erhältlich bei Löwenherz
Andreas Kraß: „Meine erste Geliebte“ Magnus Hirschfeld und sein Verhältnis zur schönen Literatur. Göttingen: Wallstein 2013 (=Hirschfeld-Lectures 2), erhältlich bei Löwenherz

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