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Zwischen Tabu und Skandal

Erika Nussberger: Zwischen Tabu und Skandal. Hermaphroditen von der Antike bis heute, Böhlau: Wien, Köln, Weimar 2014.
Mit ihrer Promotionsarbeit zur (Rezeptions-)Geschichte des biologischen Phänomens der Zweigeschlechtlichkeit beim Menschen greift die Schweizer Medizinerin Erika Nussberger auf eine in den historischen Wissenschaften ausgestorben oder wenigstens verloren gegangen geglaubte Gattung wieder zurück: die epochenüberspannende Überblicksdarstellung.
Ausgeht von den Quellen teilt Erika Nussberger die Kulturgeschichte des Hermaphroditismus in fünf Abschnitte (S. 31-246): 1) „Von göttlichen Zeichen und menschlichen Reaktionen“, 500 v.Chr. bis 500 n.Chr.; 2) Als der Hermaphrodit zum juristischen Problemfall wurde, 500-1750 n.Chr.; 3) Die Entdeckung der inneren Organe, 1750-1850 n.Chr; 4) Von den Tücken der Eindeutigkeit, 1850-1920 n.Chr.; 5) Behandlungspflichtige Krankheit oder Drittes Geschlecht?, ab 1920 n.Chr. Abgerundet wird die Arbeit durch vorausgehende Bemerkungen zum Forschungsstand, zu Fragestellungen, Quellen und Methodik (S. 13-30) sowie einer abschließenden Analyse und Diskussion (S. 247-280)  sowie einem ausführlichen bibliographischen Apparat.
Man kann sich nicht Heinrich Graetz‘ „Geschichte der Juden“ zum Vorbild nehmen, will man den Erfolg einer historischen Gesamtdarstellung an ihrem Umfang messen. Vielmehr gilt wie auch kein kurzen Aufsätzen oder Abhandlungen als Maßstab, wie die Quellen und die Werkzeug ihrer Erschließung gehandhabt werden. Dazu zählt neben der kritischen Textanalyse auch die Quellengeschichte, Quellensystematik und die historischen und gattungsspezifischen Umstände, die die Texte selbst ohne lenkende Eingriffe der Interpretation zum Sprechen bringen sollen.
Aufgrund des eigenen fachlichen Schwerpunkts des Rezensenten auf dem griechisch-römischen Altertum wird die Arbeit von Erika Nussberger anhand ihrer Untersuchung und Zusammenfassung zur Antike (S. 31-55 und 247-279) beurteilt werden. Auch wenn bei einer epochenübergreifenden Darstellung oben Gesagtes gleichermaßen für jede einzelne Epoche gilt, die ein gleichbleibendes Maß an wissenschaftlicher und intellektueller Beschäftigung einfordern und verdienen, muß jedoch davor gewarnt werden, von einem Abschnitt pars pro toto auf die anderen Kapitel oder die ganze Arbeit zu schließen.
Denn Erika Nussberger präsentiert ihre Auswahl des Quellenmaterials zur griechischen und römischen Epoche getreu ihrem Vorbild Luc Brisson (Le sexe incertain, Paris 1997) weitgehend a-historisch, d.h. ohne jegliche allgemeine oder auch detailliertere kulturgeschichtliche Kontextualisierung und damit einhergehende kritische Würdigung des Materials. So wird einerseits griechische und römische Rezeption von Phänomenen des Hermaphroditismus weitgehend indifferent behandelt, als ob die römische und die griechische Kultur ungetrennt und ununterscheidbar gewesen sei. Gerade der stark legistische und damit formalistische Charakter des – aus dem Etruskischen stammenden – römischen Kults hat auf die Darstellung und Deutung „von göttlichen Zeichen und menschlichen Reaktionen“ (so die Kapitelüberschrift S. 31) keinen Einfluß. Daß die Lehre und Praxis der Deutung unheilvoller göttlicher Vorzeichen  („prodigium„) und ihre Erzählung wesensmäßig kategorisiert und reglementiert ist, wird weder bei der ersten einschlägigen Livius-Stelle (27, 37, 5-15) noch bei den Quellen in dem von Livius abhängigen „Buch der Vorzeichen“ von Iulius Obseqens (4. Jh. n.Chr.) thematisiert (S. 30ff. für Livius bzw. S. 35f. für Iulius Obsequens).
Die Autorin gibt Livius wieder, der den Fall eines während des 2. Punischen Krieges in Frusino Neugeborenen beschreibt, dessen Größe die eines Vierjährigen und dessen körperliches Geschlecht nicht eindeutig gewesen sei und man darum Vorzeichendeuter aus Etrurien gerufen habe, nicht nur, weil es  schon zuvor zu schlechten Vorzeichen in der Gegend gekommen war. Die „haruspices“ (Pl. von haruspex) genannten religiösen Experten waren auf die Deutung göttlicher Meinungen und Absichten anhand körperlicher Merkmale bzw. Abweichungen bei Mensch und Tier spezialisiert (heute sind sie bekannt vor allem durch ihre Methode der Leber- bzw. Eingeweide-Schau bei Opfertieren).
Entsprechend kennt das etruskisch-römische Prodigien-Wesen sowohl unterschiedliche Kategorien von Vorzeichen sowie Klassen von Trägern: Mensch und Tier, als auch detailliert auf das jeweilige Vorzeichen hin reagierende Entsühnungs-Riten. Körperliche Abweichungen bzw. Mißbildungen wurden im Lateinischen auch „monstrum“ genannt, weil, so Marcus Cicero in seiner Schrift „Über die Vorzeichen), „sie auf etwas zeigen“ („monstrant„;  1, 42). Nicht das Phänomen des Vorzeichen selbst steht also im Vordergrund, sondern das, was es bezeichnet oder worauf es hinweist – und auf welche Weise die Welt wieder rituell geheilt werden kann. So werden Tiere in der Regel geopfert, Menschen des Landes verwiesen bzw. außer Landes gebracht: die als Vorzeichen-Träger identifizierten Säuglinge werden in den römischen Berichten immer vom Land auf Wasser (Meer oder Flüsse) gebracht, nicht aber unmittelbar getötet. Grundsätzlich war in der griechischen wie römischen Epoche jedoch jede Art von körperlicher Mißbildung (oder Normabweichung) ein plausibler und regelmäßig auch gesetzlich verankerter Grund Neugeborene aus der Familie und dem Gemeinwesen zu entfernen, auszusetzen und damit dem sicheren Tod anheimzustellen.
Gerade die rituell unterschiedliche Behandlung zeigt, daß Hermaphroditen als Menschen betrachtet wurden. Daß von ihnen vor allem als Träger von Vorzeichen berichtet wird, ist im Kontext völlig nicht wertend zu verstehen, wie Erika Nussberger in ihrer zusammenfassenden Analyse S. 247 interpretiert, da dem Vorzeichenwesen (wie später auch der mittelalterlichen Mystik) alles Zeichen ist.
Die Autorin bemerkt zwar die schematisch angeordneten Informationen und die Regelmäßigkeit in der Darstellung bei Livius, Iulius Obsequens und anderen (vgl. S. 35), wundert sich jedoch nur über das Fehlen von aus heutiger Sicht wohl Relevantem („Falls überhaupt jemals ein Arzt im Spiel war, erwähnte ihn Livius nicht.“, S. 33) und erkennt nicht die Relevanz des Schematischen in diesen Berichten. Die Frage der Autorin nach der „Authentizität der Berichte“ (S. 33) und danach, „wie viel dem Autor [= Livius] an einer sorgfältigen Abbildung der Realität gelegen war“ mutet etwas Unbeholfenes und etwas unfreiwillig Komisches an, wenn man sich einerseits die verschiedenen Tier-Prodigien vor Augen führt, u.a. sprechende Kühe, Schweine mit Menschengesichertern usw., andererseits die jenseits empirischer Absicht liegende Ziele der Prodigien-Berichte.
Vor allem für die griechische bzw. allgemein die antike Epoche ist als fatale Leerstelle der Arbeit das Fehlen jeglicher mythologischer bzw. archäologischer Quellen zu beklagen. So sind Hermen-Skulpturen, die einen weiblichen Oberkörper mit einem männlichen primären Geschlechtsorgan (Hermeroten, Hermathenen, Hermherakles, Hermopane, usw.) keine Seltenheit in der griechischen Kunst, vgl. der Fund aus Ephesos.
Es ist offenkundig, daß sich Erika Nussberger zu wenig mit der Eigen-Art antiker Gesellschaften und ihren kulturellen Äußerungen (Literatur) beschäftigt hat, um ein differenziertes und breites Bild des antiken Blickes auf Zweigeschlechtlichkeit zeichnen zu können. Vielmehr gibt sie einen Eindruck davon, wie sie selbst bzw. Luc Brisson und andere die antiken Menschen und ihren Blickwinkel verstehen. Abschließend soll auf die 2014 bzw. 2015 erscheinende Untersuchung von Anthony Corbeill: „Sexing the World: Grammatical Gender and Biological Sex in Ancient Rome“ hingewiesen werden, die einen ausführlichen und wissenschaftlich-fundierten Einblick in die Thematik bietet.
Erika Nussberger: Zwischen Tabu und Skandal. Hermaphroditen von der Antike bis heute, Böhlau: Wien, Köln, Weimar 2014, erhältlich bei Löwenherz

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