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Digitale Erinnerungskultur in Wien: "Memory Gaps" von Konstanze Sailer

Die bildende Künstlerin Konstanze Sailer weist von April bis Dezember 2015 Erinnerungslücken („Memory Gaps“) im Wiener Gedächtnis und Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus aus. In der Verschränkung von digitaler und analoger Präsenz, historischer und aktueller Relevanz nutzt sie traditionelle und zeitgenössische Werkzeuge der Gedächtniskultur und nutzt den öffentlich-virtuellen Raum, um den öffentlich-realen Raum zu ergänzen und zu erweitern. (Zur Kunst-Aktion „Memory Gaps“ geht es hier.)

Konstanze Seiler, "Aufschrei 23:38 Uhr", 2015, 48 x 36cm ["Blauer Winkel"]

Konstanze Sailer, „Aufschrei 23:38 Uhr“, 2015, 48 x 36cm [„Blauer Winkel“]

Noch einige Jahrzehnte werden ins Land gehen, bis unsere Gesellschaft ganz selbstverständlich den digitalen Raum („das Internet“) als Teil des öffentlichen und halb-öffentlichen, privaten Raumerlebens wahrnimmt und nicht mehr zwei verschiedene Sphären wahrnimmt. Gerade traditionelles Kunstgeschehen, das sich nicht ausdrücklich als „digital“ bezeichnet, steht „dem Internet“ als Teil des öffentlichen Raumes nach wie vor vielfach skeptisch bis ablehnend gegenüber. Daß die Alltagskultur diesen nicht mehr ganz so neuen Raum schon längst für sich entdeckt und quer durch alle Alters- und Bevölkerungsgruppen in das eigene, nicht nur soziale Leben integriert hat, ist hingegen offensichtlich. Auch wenn wir es gegenwärtig meistens verdrängen, ist die Endlichkeit unseres individuellen Lebens, also der Tod des Menschen, auch Teil des Lebens – und damit auch Teil des digitalen Lebens. Nicht nur rein praktische und rechtliche Fragen wie „Was passiert nach meinem Tod mit den erworbenen Nutzungsrechten und Zugängen?“ stellen sich uns, sondern auch, was mit unserem digitalen Nachlaß passiert, also unseren Profilen in den Sozialen Netzwerken, unseren Bild-, Video- und Tonbibliotheken. Und schließlich: Nur durch Erinnern können wir uns ein wenig gegen den Fluß der Zeit stemmen, der Begrenztheit unseres eigenen Lebens „ein Schnippchen schlagen“ und so ist der digitale Raum nicht nur ein Archiv für historische Informationen, sondern auch ein Ort, an dem Menschen anderer Menschen gedenken können (vgl. Christine Mielke, Mediale Erinnerungskultur. Totengedenken im Internet – privat und prominent, in: Knud Böhle u.a. (Hg.) Computertechnik und Sterbekultur, Berlin 2014; auch hier und hier usw.).
Es ist konsequent weitergedacht, auch eine politisch motivierte und damit gesellschaftlich relevante (personale) Gedächtniskultur zu entwickeln. Konstanze Sailer (Jahrgang 1965) thematisiert in ihrem Zyklus „Memory Gaps“ (Erinnerungslücken) einerseits unterschiedlichen Menschengruppen, die der nationalsozialistischen Ideologie und Gewaltherrschaft zum Opfer fielen und setzt sich damit ab von der häufigen Praxis, je Mahnmal („Gedächtnisobjekt“) nur einer verfolgten und geschundenen Gruppe von Menschen zu gedenken und an deren Leiden zu erinnern. So naheliegend und verständlich aus der Perspektive von Überlebenden und Hinterbliebenen diese Praxis ist, schreibt sie doch selbst die Kategorisierung des Gewaltregimes fort, wie sie sich in den verschiedenen „Winkel“-Farben äußerte, mit denen die Häftlinge in den Konzentrationslagern „etikettiert“ wurden. Die realen „Objekte“ der Aktion, Zeichnungen in Tusche auf Papier, stellen in auf die „Winkel“ verweisende Farbe im Schrei aufgerissene Münder (Kiefer) dar und repräsentieren damit jeweils eine der verschiedenen Opfergruppen. Eine zweite Bedeutungsebene hebt die Ent-Persönlichung der „Winkel“-Farben und ihrer Gruppenzuschreibung auf, nennt die Opfer beim Namen und stellt sie und ihre Leidensgeschichte damit unserem gemeinsamen Gedächtnis anheim.
Konstanze Seiler. "Schrei 08:16 Uhr", 2015, 48 x 36cm ["Rosa Winkel"]

Konstanze Sailer, „Schrei 08:16 Uhr“, 2015, 48 x 36cm [„Rosa Winkel“]

Die dritte Ebene der Kunst-Aktion verweist auf aktuelle Wiener Diskurse der Gedächtniskultur, das Gedächtnis im (realen) öffentlichen Raum. Zwischen 2011 und 2013 hat eine historisch-wissenschaftliche Kommission im Auftrag der Stadt Wien die Namensgebung von Gassen und Platzen untersucht und hinsichtlich bestimmter sog. „demokratiepolitischer“ Kriterien eingestuft. In der Folge wurde und wird die Umbenennung von Verkehrsflächen in Wien breit diskutiert und einzelne Neubenennungen bereits durchgeführt, wie 2012 der neue „Universitätsring“. Aber auch die neu anzulegende Straßen und Plätze oder neue Wege(-Abschnitte) und Brücken in Wien müssen benannt werden. Konstanze Sailer stellt darum – „proaktiv“ – jedes Monat eine Serie von Grafiken in einer Galerie aus, die in einer Gasse liegt, die es eigentlich nicht gibt, aber geben müßte.
Benannt ist die Gasse, in der die (nur virtuell existierende) Galerie liegt, nach jenem Menschen, dem die Serie des jeweiligen Monats gewidmet ist: So war im Juli 2015 der „Blaue Winkel“ in der Malva Schalek-Gasse 45 im 23. Bezirk zu sehen, in ehrender Erinnerung an die am 4. März 1945 im KL Auschwitz ermordete österreichisch-jüdische Malerin. 1942 nach Theresienstadt deportiert, malte sie dort heimlich Alltagsszenen und als sie sich weigerte, einen NS-Arzt zu porträtieren, wurde sie daraufhin nach Auschwitz verlegt und dort getötet. Der Monat Mai stand (und steht) im Zeichen Paul Schieberles (Wien 1896 – Dachau 1942), einem der vielen homosexuellen Männer, die der faschistischen Ideologie des „Heilen oder Vernichten“ zum Opfer fielen. (Alle Menschen und Orte in Übersicht hier.) Gleichzeitig, aber nicht raumgreifend zeigt die Künstlerin der zugehörigen Objekte-Beschreibung auf jene Flächen, die nach wie vor nach Menschen benannt sind, die vom Gewaltregime profitierten, es indirekt oder sogar direkt unterstützten. Womit nicht nur unsere Erinnerungslücken, sondern auch unsere „blinden Flecken“ aufgedeckt werden.

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