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Gleichberechtigung der Empfindungen

Zu Ehren ihres 80. Geburtstags laden die Wienbibliothek im Rathaus und QWIEN die renommierte Literaturwissenschaftlerin Marita Keilson-Lauritz zu einem Vortrag über den vergessenen Schriftsteller Eduard Kulke ein, der auch eine Wiederentdeckung für die queere Musik- und Literaturgeschichte ist.

Eduard Kulke (c) Archiv der Universität Wien

Eduard Kulke (c) Archiv der Universität Wien


Als Eduard Kulke 1908 in einem Artikel im Jahrbuch für sexuelle Zwischenstufen vom Volkskundler und Sexualforscher Friedrich Salomo Krauss als „Uranier“ geoutet wurde, war er bereits über zehn Jahre tot. Er war nach einer erfolgreichen Laufbahn als Schriftsteller, Musikkritiker und Philosoph 67-jährig in Wien gestorben und wurde im jüdischen Teil des Zentralfriedhofs beigesetzt. Krauss hatte Kulke noch persönlich kennengelernt, weil ihn der schwerkranke Schriftsteller mit der Herausgabe seiner Werke beauftragt hatte.
Bekannt geworden war Kulke als Musikkritiker, glühender Wagnerianer und Autor von Geschichten, die vornehmlich das Leben in der „jüdischen ‚Gasse‘ meisterhaft evoziere“, wie Marita Keilson-Lauritz in einem Aufsatz über Kulke festhielt. Besonders deutliche Hinweise auf Homosexualität lassen sich in seinen literarischen Werke kaum finden, auch weil Krauss die aus dem Nachlass editierten um allzu deutliche Stellen gereinigt hatte (wie er zugab). Neben den starken, unabhängigen Frauen, die in vielen seiner Erzählungen im Mittelpunkt stehen, sind es eher ambivalente Männerfiguren, die den ihnen zugeschriebenen Rollenbildern nicht entsprechen, die Kulkes Werk so ungewöhnlich machen.
Marita Keilson-Lauritz (c) Manon van der Zwaal

Marita Keilson-Lauritz (c) Manon van der Zwaal


In einem queeren Kontext am spannendsten ist die Figur des „Schmul Mad“, eines Jungen, dem „die Schöpfung […] die Gestalt des Mannes verlieh, während sie ihm die Neigungen des Weibes in die Brust pflanzte“ (Kulke). Doch ist der „Schmul Mad“ nicht nur eine „sexuelle Zwischenstufe“ im Hirschfeld’schen Sinn, „nicht nur eine zwischen den Geschlechtern, sondern zugleich eine zwischen den Kulturen“, wie Keilson-Lauritz festhält, weil sein weibliches Verhalten einen Tabubruch innerhalb der engen Welt des jüdischen „Gettos“ darstellte.
Der Titel des Vortrags von Marita Keilson-Lauritz „Eduard Kulke und die Gleichberechtigung der Empfindungen“ bezieht sich auf dessen ebenfalls erst aus dem Nachlass editiertes Hauptwerk Kritik der Philosophie des Schönen, zu dem der Physiker und Philosoph Ernst Mach, mit dem Kulke lange befreundet war, eine biografische Skizze beitrug. Kulke postulierte darin den Primat der „eigenen inneren Erlebnisse“ als Maßstab einer ästhetischen Beurteilung gegenüber einem „Prinzip der Majorität“ in diesen Fragen. Mit seinem „Prinzip der Individualität“ als Gegenpol öffnete Kulke „die Tür für diverse Minderheitenstandpunkte in Fragen der Ästhetik“ (Keilson-Lauritz). Schon Krauss stellte Kulkes „Gleichberechtigung der Empfindungen“ wohl zu Recht, wie Keilson-Lauritz festhält, „als philosophisch-ästhetisches Pendant zu den naturwissenschaftlich begründeten emanzipativen Bemühungen des Jahrbuchs“ von Magnus Hirschfeld dar.
Keilson KentaurenliebeDer in Amsterdam lebenden Literaturwissenschaftlerin Marita Keilson-Lauritz kommt das Verdienst zu, den vergessenen Eduard Kulke wieder ins Bewusstsein historisch Interessierter zu rufen. Für Musikwissenschaftler_innen bietet der Netzwerker Kulke vielfältige Anknüpfungspunkte, da er mit dem Who-is-Who der Musikwelt des ausgehenden 19. Jahrhunderts auf Du und Du war, insbesondere mit Richard Wagner. Für die jüdische Literaturgeschichte ist Kulke ebenfalls noch zu entdecken. Und auch für die Geschichte der Homosexualität_en stellt Kulke eine spannende Wiederentdeckung dar. Als Autor der dem Wiener Kreis und damit der philosophischen Moderne nahe stand, harrt sein Hauptwerk einer Neulektüre durch die queere Forschung.
Der Vortrag von Marita Keilson-Lauritz über Eduard Kulke wird dazu einen ersten Schritt leisten, der ihre verdienstvolle Arbeit vor allem für die Literaturgeschichte der männlichen Homosexualität fortsetzt. Ihre Dissertation über die Geschichte der Homosexuellenzeitschrift Der Eigene zählt zu den Grundlagenwerken der homosexuellen Literaturwissenschaft und der Frühgeschichte der Homosexuellenbewegung in Deutschland. Mit schier unfassbarer Detailfülle zeichnet sie das literarische Umfeld des Eigenen nach, deckt Bezüge zur emanzipatorischen Bewegung um Hirschfeld auf, legt aber auch die problematischen deutschnationalen und antisemitischen Züge des Herausgebers Adolf Brand offen dar.
Neben ihrer Beschäftigung mit der Frühgeschichte der Homosexuellenbewegung hat sich Marita Keilson-Lauritz vor allem um die jüdische (Literatur-)Geschichte verdient gemacht. Heute setzte sie sich auch besonders für das Werk ihres 2011 verstorbenen Mannes Hans Keilson ein, der als Psychoanalytiker, Psychiater und Schriftsteller bekannt wurde. Zuletzt erschien aus seinem Nachlass sein Bericht aus dem Widerstand gegen die Nationalsozialisten in den besetzten Niederlanden, Tagebuch 1944, das Marita Keilson-Lauritz am 2. Oktober 2015 im Republikanischen Club vorstellen wird.
QWIEN dankt der agpro für die Unterstützung!
Vortrag Marita Keilson-Lauritz: Eduard Kulke und die Gleichberechtigung der Empfindungen
Ort und Zeit: 30. September 2015, 19.00 Uhr
Musiksammlung der Wienbibliothek, Loos-Räume, Bartensteingasse 9, 1. Stock, 1010 Wien
Programm
Begrüßung: Sylvia Mattl-Wurm, Wienbibliothek, und Andreas Brunner, QWIEN
Einführende Worte: Wolfgang Nedobity, Österreichische Universitätenkonferenz
Vortrag: Marita Keilson-Lauritz, Literaturwissenschaftlerin
Anschließend Brot & Wein
keilson eigene_0001Literaturhinweise
Marita Keilson-Lauritz: Die Geschichte der eignen Geschichte. Literatur und Literaturkritik in den Anfängen der Schwulenbewegung. Berlin: Verlag rosa Winkel 1997 (=Homosexualität und Literatur Bd. 11), erhältlich bei Löwenherz
Einen informativen Aufsatz über Eduard Kulke enthält der Sammelband:
Marita Keilson-Lauritz: Kentaurenliebe. Seitenwege der Männerliebe im 20. Jahrhundert. Hamburg: Männerschwarm 2013, erhältlich bei Löwenherz

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