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Hilma af Klint: Verkannte Pionierin

2018 stellt das Guggenheim Museum in New York Werke der weitgehend unbekannten Künstlerin Hilma af Klint aus. Die Ausstellung ist ein überraschender Erfolg und führt zur Wiederentdeckung der schwedischen Malerin, die ihrer Zeit voraus war. Julia Voss arbeitete in jahrelanger Forschung das Leben und Werk af Klints auf und veröffentlichte die erste Biografie über eine Frau, über die noch viel geschrieben werden wird.  Von Lena Leibetseder. 

Hilma af Klint wird im Oktober 1852 in Solna in einer Kaserne geboren. Der Vater ist Offizier der schwedischen Marine, die Mutter stammt aus einer wohlhabenden, finnischen Familie. Die Eltern sind liberal eingestellt und ermöglichen ihren Kindern deshalb und aufgrund ihrer guten finanziellen Situation den Besuch einer Mädchenschule sowie später weiterführende Ausbildungen. Die Schule und vor allem die Dominanz der religiösen Erziehung empfindet af Klint jedoch als restriktiv und einschränkend, und sie schreibt später über ihre Schulzeit, dass sie ihr Kummer bereitet habe.

Schon früh zeigt sich af Klints künstlerisches Potenzial und ihr kreativer Geist. Mit nur 17 Jahren verkehrt sie als Protégée der Fotografin Bertha Valerius in schwedischen Künstler_innenkreisen und nimmt auch während dieser Zeit zum ersten Mal an Séancen Teil, die ihr den Eintritt weisen in eine spirituelle Welt und determinierend für af Klints späteres künstlerisches Schaffen und ihr Kunstverständnis werden. Dieses Kunstverständnis teil sie mit einem kleinen, aufstrebenden Kreis, der jedoch in Schweden stark in der Minderheit bleibt. Denn die Auffassung, dass Künstler_innen besondere Fähigkeiten haben, um Signale aus anderen Welten zu empfangen sowie die Vision einer Zukunft, in der sich die Frau als tonangebend in der Kunstszene erweist, findet den Maßstäben der Zeit entsprechend wenig breitenwirksamen Anklang.

Hilma af Klint in ihrem Studio

Hilma af Klint beginnt 1882 ihr Studium an der Königlichen Akademie der freien Künste, wo sie bereits das Ungleichgewicht zugunsten Männern in der Kunstszene erfährt, das später ihre eigene Karriere bestimmen wird. Alle Lehrenden sind Männer, zudem werden Männer und Frauen getrennt unterrichtet. Und dennoch ist der bloße Umstand, dass af Klint als Frau an der Universität studieren darf höchst fortschrittlich, im Rest Europas bleibt der Zugang zu höherer künstlerischer Ausbildung vorerst Männern vorbehalten.

Während des Studiums findet af Klint in ihrer Studienkollegin Anna Maria Cassel eine lebenslange Freundin. Die Beiden teilen das Interesse für Mystik und dringen zusammen weiter in spirituelle Kreise vor. Af Klint beschäftigt sich mit freien Geschlechtsvorstellungen und der Idee, dass Männlichkeit und Weiblichkeit keine streng voneinander getrennten Konstrukte bilden. Viele ihrer Glaubenssätze und Überzeugungen findet die Künstlerin in der Theosophie, einer mystisch-religiösen Lehre, wieder. Sie wird Teil von „De Fem“, zu Deutsch „Die Fünf“, einer Gruppe von Frauen, die sich unregelmäßig, aber über einen langen Zeitraum hinweg immer wieder treffen, um gemeinsam an Séancen teilzunehmen und während dieser Sitzungen Kunst zu schaffen. Af Klint hat Visionen, betrachtet sich selbst als Medium und beschreibt, wie Stimmen mit ihr Kontakt aufnehmen, und ihr auftragen, sie solle zeichnen.

Unter den Eindrücken der Séancen und ihrer tiefergehenden Beschäftigung mit okkulten Wissenschaften malt af Klint 1906 ihre erste Serie, „Urchaos“. Es sind abstrakte Gemälde, in ihrer Art die ersten weltweit.

Hilma af Klint: Urchaos, Nr. 16, Gruppe I

„Den Gemälden fehlt jeder Maßstab, mit dessen Hilfe sich bestimmen ließe, welche Dimensionen die Formen haben könnten, die sich auf den Leinwänden zeigen. In einem Moment fühlt man sich, als ob man über den Rand einer übergroßen Petrischale blicken würde. Im nächsten Moment könnte man schon mitten in der Milchstraße stehen und hinein ins All gucken, zu Planeten, Kometen oder Sternen. Wie ein Gulliver im Zeitraffer schrumpft der Betrachter. Eine Sekunde in Liliput und die Welt wird zur Miniatur. Die zweite Sekunde schon wieder in Brobdingnag, alles wird riesenhaft groß.“

Julia Voss, S. 239

Großen Einfluss auf ihr Kunstschaffen haben auch af Klints Beziehungen, besonders jene zu ihrer langjährigen Studienfreundin Anna Cassel, aber auch zu Sigrid Lancén, die af Klint ungewöhnlich detailliert in ihren Notizbüchern festhält. Lancén bewegt sich in den spirituellen Kreisen um die Künstlerin und hilft als Krankengymnastikern bei der Pflege von af Klints Mutter, bevor sie und af Klint zusammenfinden. Die körperliche Nähe zu Lancén und ihre gemeinsamen sexuellen Erfahrungen halten beide Frauen als höchst spirituell fest. Sie fühlen sich, als würde ihre körperliche Intimität sie näherbringen zu den Antworten auf die spirituellen Fragen, die sie sich stellen. Liebe wird für Hilma af Klint ein zentraler Weg zur Erkenntnis und deshalb von großer Bedeutung für ihr Schaffen.

Hilma af Klint: Evolution, Nr. 13, Gruppe VI

Fast in Eile und getrieben von einer unbestimmten Macht malt af Klint kurz nach der Vollendung von „Urchaos“ die Serie „Eros“. Doch diese neue Art von Kunst, die sie so eifrig schafft, trifft auf wenig wohlwollende Reaktionen, af Klint wird in Kunstkreisen nicht ernst genommen. Generell entspricht die Künstlerin nicht den Konventionen ihrer Zeit. Die schwedische Kunstwelt spiegelt die patriarchalen Strukturen, die sich durch das 20. Jahrhundert ziehen, wider. Dass af Klint als esoterische, lesbische Frau mit abstrakter Kunst nicht die großen Erfolge feiert wie Wassily Kandinsky nur wenige Jahre später, verwundert sie selbst nicht. Sie setzt ihre Misserfolge in der Kunstszene nicht mit ihrem eigenen Können in Verbindung, sondern erkennt klar, dass ihr die Strukturen und Normen ihrer Zeit den Erfolg verwehren.

Deswegen trägt Hilma af Klint 1932 „+x“ in ihr Notizbuch ein und erklärt darunter: „Alle Arbeiten, die nach meinem Tod geöffnet werden sollen, tragen das obenstehende Zeichen.“ In erstaunlicher Klarheit erkennt sie, dass ihre Kunst erst in der Zukunft verstanden werden wird und sie ihrer Zeit voraus ist. Sie verfügt so, dass ihr Oeuvre zu ihren Lebzeiten nicht mehr ausgestellt wird. Als sie 1944 stirbt, werden ihre Werke auf dem Dachboden ihres Neffen in Stockholm in Kisten gelagert, die erst 1966 wieder geöffnet werden.

„Hilma af Klint hat nie damit gerechnet, von der Kunstwelt im engeren Sinne verstanden zu werden. Sie wollte weder in der Akademie ausstellen noch in der Galerie, sie wünscht sich keine Sammler oder Käufer. Sie will ein Publikum, das sucht, Frauen, Männer oder Kinder, denen die Bilder einen Weg weisen können, zu einer Alternative, einem Ausweg aus dem Materialismus. […] Die Augen will sie dafür öffnen, dass alles auch ganz anders sein könnte und die Welt größer ist, als das, was man sieht, wandlungsfähig und veränderbar.“ 

Julia Voss, S. 394

Mit Akribie und Feinfühligkeit portraitiert Julia Voss die ungewöhnliche Künstlerin Hilma af Klint. Sie räumt mit Vorurteilen auf und stellt af Klint als Pionierin der abstrakten Kunst an einen zentralen Ankerpunkt der Kunstgeschichte. Respektvoll arbeitet die Autorin die Beziehung zwischen af Klints Kunst und ihren spirituellen Erfahrungen auf und wird dabei zwar oft etwas zu detailverliebt, was dem Lesefluss jedoch keinen Abbruch tut. Voss portraitiert dabei nicht nur die Künstlerin, sondern eine ganze Epoche und arbeitet an af Klint die patriarchalen Strukturen der Kunstszene auf. Die Waage zwischen Frauen und Männern in der Kunstgeschichte ist im Ungleichgewicht, und die Wiederentdeckung von Hilma af Klint, deren Motor zu einem großen Stück die Biografie von Julia Voss ist, kann sie vielleicht ein Stück weiter ins Gleichgewicht rücken.


Julia Voss: „Die Menschheit in Erstaunen versetzten.“ Hilma af Klint. Biographie, Fischer: Frankfurt am Main 2020, erhältlich bei Löwenherz.

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