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Vieldeutiges Leben

Was schreiben über einen Roman, der allseits gelobt wurde, der von berufenen Literaturkritiker*innen schon in Bezug zu Didier Eribon und Eduard Louis, den schwulen Literaturstars aus Frankreich, gestellt wurde? Neben den literarischen Qualitäten ist es vor allem die Darstellung der schwulen Geschichte, die dieser Roman so lesenswert machen . Von Andreas Brunner

Folgt man dem Motto von Nathaniel Hawthorne, das Jürgen Bauer seinem Roman voranstellt, ist Verwirrung die Folge, wenn ein Mensch für längere Zeit sich selbst das eine und der Menge ein anderes Gesicht zeigt. Es wäre unmöglich zu sagen, welches das echte ist. Welches das echte Gesicht von Jürgen Bauers Held Georg ist, bleibt auch nach über 300 Seiten Lektüre unscharf, Georg erhielt auch nie die Gelegenheit seine eigene Sicht darzulegen. Denn erzählt wird sein Porträt aus drei unterschiedlichen Perspektiven, die auch jeweils unterschiedliche Abschnitte von Georgs Leben im Zentrum haben.

Jürgen Bauer (c) Septime Verlag

In ersten Teil erzählt Georgs fast neunzigjährige Mutter Mariedl, eine einfache Bäuerin, die ihr Leben lang hart gearbeitet hat, um den Hof, den sie nach dem lange rätselhaft bleibenden Verschwinden ihres Mannes in der Nazizeit alleine bewirtschaftet hat, zu erhalten. Im zweiten lässt sein langjähriger Geliebter Gabriel, ein Landkind wie Georg, ihre Liebe und das Scheitern ihrer Beziehung Revue passieren und gibt dabei Einblicke in das schwule Leben der 1970er- und 1980er-Jahre. Im dritten und letzten Teil beschreibt Georgs Ehefrau Sara, eine gescheiterte Opernsängerin aus den Niederlanden, warum sie einen Mann geheiratet hat, von dem sie wusste, dass er Männer bevorzugt. Es zeugt von erzählerischem Können, dass es Jürgen Bauer gelingt, allen drei Erzählfiguren einen unverwechselbaren Ton zu geben, sie in ihrem jeweils eigenen Stimmen sprechen zu lassen.

„Was glaubst du eigentlich, wer du bist?“, geht Mariedl ihren Sohn gleich im ersten Satz frontal an und man ahnt sofort, dass das Verhältnis zwischen Mutter und Sohn nicht das beste ist. Sie erzählt von den Entbehrungen, die sie auf sich genommen hat, damit der Sohn einmal den Hof übernehmen kann, nachdem der ältere Bruder – auch dafür gibt sie Georg die Schuld – jung an Krebs gestorben ist. Warum musste er auf eine höhere Schule gehen? Bildung ist ein Fluch, man braucht sie nicht in der Landwirtschaft, da reichen zwei Hände, die zupacken können. Warum musste er in die Stadt gehen und sich dort mit Männern einlassen? Dass ihr Sohn schwul ist, kann und will sie nicht benennen und schon gar nicht akzeptieren. Dass er später mit einer Frau auftaucht, ist ihr auch ein Ärgernis, weil diese kein Interesse am ländlichen Leben hat.

Gabriel, um mehr als zehn Jahre jünger als Georg, verlässt Anfang der 1970er-Jahre seine Eltern in der Provinz und macht sich mit der Information, dass sich Homosexuelle in öffentlichen Toiletten am Naschmarkt träfen, auf in die Großstadt, um mit seinem Arsch die Welt zu erobern. Seine erste Eroberung wird gleich Georg sein, der das Naschmarkthäusel und andere Logen der Stadt regelmäßig aufsucht, um Sexpartner zu finden. Georg wird Gabriel schließlich in seine Wohnung mitnehmen, die beiden beginnen eine offene Beziehung, die sexuelle Abenteuer möglich macht. Gabriel, flamboyant, sexuelle offensiv und wütend, fordert den zurückhaltenden, auf seine Karriere als Jurist bedachten Georg immer wieder heraus, wenn er sich in der Öffentlichkeit produziert, der aufkeimenden Schwulenbewegung anschließt und auch um Drogen keinen Bogen macht.

Als Sara in einer Bar auf Georg trifft, kennt sie ihn schon lange vom Sehen aus der Oper, die Georg regelmäßig am Stehplatz besucht. Sie kam, aus einer reichen Amsterdamer Industriellenfamilie stammend, nach Wien, um Opernsängerin zu werden, aber das Talent reichte nicht. Um sich endgültig aus einer gewalttätigen Beziehung mit einem Gesanglehrer zu lösen, ist sie bereit Georg zu heiraten, obwohl sie von seinem homosexuellen Begehren weiß. Eine Hand wäscht die andere, Georg bekommt ein heterosexuelles Image, das ihm beim beruflichen Aufstieg im Justizministerium nicht schadet, Sara eine bürgerliche Fassade, die sie über die Leere in ihrem Leben hinwegtäuscht. Solange Georg diskret seine nächtlichen Eskapaden lebt, schaut Sara weg, als plötzlich nach Jahren der an Aids erkrankte Gabriel wieder im Leben von Georg auftaucht und dieser beschließt sich doch um seine Lebensliebe zu kümmern, gerät ihr Leben aber aus dem Gleichgewicht.

Im Grunde sind alle Figuren des Romans gescheiterte Existenzen. Mariedls Lebensträume sind schon geplatzt, als sie von ihrem Mann, der vor der Verfolgung durch die Nazis im Dorf flüchten musste, verlassen wurde. Sie klammert sich an ihren Bauernhof, den sie bis ins hohe Alter mit allen ihr zur Verfügung stehenden Kräften verteidigt, selbst als sie erkennen muss, dass sie keine Nachfolger haben wird. Gefangen in der Enge ihrer bäuerlichen Welt fehlt ihr jegliches Verständnis für ihren schwulen Sohn, der seine Herkunft verleugnet. Gabriel, im ständigen Widerstand gegen eine Gesellschaft, die ihn wegen seiner Homosexualität ausgrenzt, versinkt in Drogen, streunt als Stricher durch Europa und findet an Aids erkrankt bei Georg schließlich doch einen sicheren Hafen. Auch Saras Lebensträume sind geplatzt und die Ehe mit Georg nur eine verlogene Farce.

Obwohl die erzählenden Personen alle unglücklich sind, ist „Portrait“ trotzdem kein düsterer Text. Jürgen Bauer gelingt ein lebenssattes Buch. Eindrücklich lässt er Mariedl von Armut und Entbehrungen erzählen, sie steht mit beiden Beinen in dieser Welt und lässt sich im harten Kampf um ihre Existenz nie unterkriegen. Detailliert und einfühlsam schildert er die bäuerliche Welt und Mariedls Verbundenheit zur Natur. In Gabriel spiegelt der Autor mit viel historischem Wissen und Feingefühl das schwule Aufbegehren der 1970er-Jahre, erzählt Gabriel als Teil der sich sammelnden Schwulenbewegung, zeigt ihn in den Lokalen, den Parks und den Logen der schwulen Subkultur flirtend und rumvögelnd und lässt ein Gefühl der sexuellen Euphorie dieser Jahre wieder auferstehen, die durch das Einbrechen von Aids zum Fluch wird. Sara, die aus einer gescheiterten Familie in die Unabhängigkeit floh, findet in der Musik einen emotionalen Anker, auch wenn der Traum von den Brettern, die die Welt bedeuten, scheitert.

Und Georg? Georg bleibt uneindeutig, kommt nie selbst zu Wort. Wir erfahren nichts über seine Gefühle und Träume, können sie nur aus den Reaktionen und Beschreibungen seiner drei Lebensmenschen erahnen. Mitunter hat man den Eindruck, dass es gar nicht um Georg geht, wie einem der Klappentext des Buches glauben lassen möchte, sondern vielmehr um die Menschen, die in Georgs Leben wichtig waren, die Georg benützen, um von sich selbst zu erzählen. Und doch, langsam, Puzzlestein für Puzzlestein formt sich ein Bild, kommt man ihm nahe. Man liest sich fest in diesem Leben, will das Buch nicht mehr aus der Hand legen, weil die unterschiedlichen Erzählstimmen einen starken Sog entwickeln und man mehr von Georg wissen will.

Jürgen Bauer: Portrait. Wien: Septime Verlag 2020, erhältlich bei Löwenherz

Eine ausführliche Lesung gibt es auf dem queeren Literaturblog Berggasse 8

Eine kürzere Videolesung hier:

 

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