Der renommierte Medizinhistorischer Florian G. Mildenberger hat den ersten Teil einer historischen Romanbiografie über einen fiktiven, schwulen Prinzen vorgelegt. Andreas Brunner hat Der letzte Schwan gelesen.
Mitunter ist es ja ein schwieriges Unterfangen, wenn Wissenschaftler*innen sich ins weite Feld der Belletristik verirren. In der Wissenschaft gibt es klare Regeln, eine von der Fragestellung oft vorgegebene Struktur und eine auf Neutralität und Verständlichkeit fokussierte Sprache. Es gibt zwar auch in der Belletristik gewisse Verbindlichkeiten, doch sind diese oft auch dazu da gebrochen zu werden, was ungeübte Schöngeister leicht auf eine abschüssige Bahn führen kann.
Oder man bedient sich einiger Tricks und verbindet das beste aus beiden Welten – der Welt der Wissenschaft und der epischen Dichtung, wie es Mildenberger macht. Er tarnt sich als Herausgeber einer vermeintlichen Autobiografie des erfundenen deutschen Prinzen Philipp Alexander von Schwanenberg-Seiringshausen, die er als Historiker mit Kommentaren und Fußnoten erläutert. Als letzter Herrscher über ein kleines im Thüringischen gelegenen Herzogtums war Philipps politische Karriere am Ende des Ersten Weltkriegs kurz und ohne historische Nachwirkungen, verschaffte ihm aber das nötige Kleingeld, dass er sich in den 1920er-Jahren und in den Jahren des erstarkenden Nationalsozialismus ein feines Dandy-Leben in Berlin leisten konnte. In den letzten Tagen des 19. Jahrhunderts geboren ist Philipp ganz und gar eine Figur des Zwanzigsten. In noch folgenden zwei Bänden wird er dieses auch autobiografisch durchmessen.
Die erzähltechnische Volte erlaubt es dem Autor Mildenberger aus dem Vollen zu schöpfen. In der Figurenrede seines dekadenten, schwulen und großmäuligen Helden kann der Autor seine Sicht der großen Geschichte im Kleinen erzählen, was über weite Strecken sehr amüsant ist, ist doch Mildenberger auch als Wissenschaftler und Kritiker für seine durchaus scharfe Klinge bekannt. Die Freude an der Satire und grotesken Überspitzung ist ihm anzumerken, auch wenn sie ihm an manchen Stellen entgleitet, wie etwa in der Schilderung des Todes von Philipps Vater am Vorabend des 1. Weltkriegs. In der Überzeichnung gehen auch manche Tabubrüche unter, sodass es kaum aufregt, dass der Held mit seinem jüngeren Bruder in einer in ihren sexuellen Details genau geschilderten inzestuösen Beziehung lebt.
Richtig Spaß macht Der letzte Schwan, wenn man sich mit den ebenso fiktiven wissenschaftlichen Anmerkungen befasst (so man sie ohne Lupe lesen kann, ein paar Punkt größer hätte den Umfang auch nicht gesprengt). Mitunter ist man versucht, die erfundenen Informationen nach zu googeln, so überzeugend werden sie gebracht. Und für den Historiker als Rezensent ist es natürlich auch amüsant, den in den Text verwobenen historischen Fakten nachzuspüren. Manch eigenwillige Darstellung wie etwa die Rolle Österreich-Ungarns im 1. Weltkrieg kann man ja dem erzählenden Prinzen in die Schuhe schieben, auch die eine oder andere anachronistische Formulierung wie heterosexistisch kann man noch damit erklären, dass der abgesetzte Herzog seine Erinnerungen erst in den 1980er-Jahren geschrieben hat.
Das Spiel mit tatsächlichen historischen Ereignissen ist ein prägendes Merkmal vieler historischer Romane, diese darauf abzuklopfen, ob sie einer historischen Faktenanalyse standhalten umso spannender. So verbindet Schwanenburg/Mildenberger eine historische belegte Hochzeit im europäischen Hochadel, jene von Prinz Ernst August III. von Hannover mit Viktoria Luise von Preußen, mit einem homosexuellen Skandal, der sich zeitgleich in Wien abspielte, der Enttarnung von Oberst Alfred Redl als Spion. Die Hochzeit fand am 24. Mai 1913 statt, der Selbstmord Redls am 25. Mai. Dass sich die Hochzeitsgesellschaft über den schwulen Verräter und die Unfähigkeit des österreichisch-ungarischen Geheimdienstes das Maul zerreißt, ist historisch aber nicht haltbar, da der Skandal und insbesondere seine homosexuellen Hintergründe erst mit der zeitlichen Verzögerung mehrerer Tage öffentlich wurden.
Sei’s drum. Das sind Lässlichkeiten. Der letzte Schwan ist süffig zu lesendes Historienfutter, überdreht und in vielen Schattierungen schillernd. Camp im besten Sinne des von Susan Sontag vor Jahrzehnten ausufernd definierten Begriffs. Oder wie sagt Mae West: Too much of a good thing can be wonderful.
Florian G. Mildenberger (Hg.): Philipp Alexander von Schwanenburg: Der letzte Prinz, Band 1, 1899-1933, Weimar: Ultraviolett Verlag 2020, erhältlich bei Buchhandlung Löwenherz
Veit Georg Schmidt von Löwenherz über Der letzte Schwan