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DER URNING. SELBSTBEWUSST SCHWUL VOR 1900

Die Schweizer Historiker Philipp Hofstetter und René Hornung haben die Biografie von Jakob Rudolf Forster, einem Pionier der Schwulenbewegung, geschrieben und stützen sich dabei auf mikrohistorische Analysen. Eine Rezension von Tara Prochaska

„Lieber Leser, wohin wärest du gekommen, so dir gleiches begegnete?“ Mit diesen Worten beendet der Schweizer Jakob Rudolf Forster 1897 seine Autobiografie. In knapp 180 Seiten schildert Forster darin sein Leben als erster bekannter offen schwuler Mann der Schweiz. Im Mittelpunkt dieser langen Geschichte von Oppression und Verfolgung steht er als selbstbewusster, widerständiger „Urning“ (die Bezeichnung homosexueller Personen vor 1900). Philipp Hofstetter und René Hornung wollen diese faszinierende Persönlichkeit in ihrem Werk nicht nur würdigen, sondern seine Biografie auch in einem größeren historischen Kontext verstehen. Die vielseitigen, abenteuerlichen und tragischen Ereignisse seiner Lebensgeschichte wurden stark von rechtlichen und wissenschaftlichen Veränderungen geprägt, welche auch eine fundamentale Rolle für die Konstruktion des Konzepts der Homosexualität darstellten.

Aufgewachsen in Brunnadern und St. Gallen ist sich Foster seiner Identität bereits früh bewusst und macht schon bald erste sexuelle Erfahrungen mit Männern. Später führt er ein Heft mit dem Titel „Meine Geliebten“, in dem er die Namen seiner zahlreichen Liebhaber vermerkt. Diese sind oft von Notizen zu Herkunft und Alter der Männer oder kurzen Kommentaren wie „Diesen Menschen liebte ich wahnsinnig, er kostete mich viel Geld.“ oder „Ich liebte ihn leidenschaftlich.“ begleitet. Im Zuge einer Hausdurchsuchung aufgrund von Betrugsverdacht in Forsters Geschäften wird das Heft schnell gefunden und Hauptgegenstand eines gerichtlichen Prozesses. Ab diesem Zeitpunkt befindet sich Forster unter genauester Beobachtung der Behörden. In den darauffolgenden Jahren wird er mehrmals inhaftiert, zum Gegenstand zahlreicher Untersuchungen gemacht und denunziert. Zwischen 1876 und 1886 befindet er sich insgesamt viereinhalb Jahre in diversen Anstalten. Die gesellschaftlichen, wissenschaftlichen und rechtlichen Prozesse hinter Forsters Einweisung in die Strafanstalt St. Jakob, die Heilanstalt St. Primisberg und die Zwangsarbeitsanstalt Blitzi werden von den Autoren detailliert erläutert.

Die Biografie Forsters dient als mikrohistorische Fallstudie in einem Zeitalter der Umwälzungen: Strafrechtsreformen, wissenschaftliche Veränderungen im Umgang mit Sexualität und Sexualpathologie in der historischen Forschung formen das Umfeld Jakob Rudolf Forsters und anderer nicht heterosexueller Zeitgenoss*innen. Durch diesen besonderen Fokus auf zeitbezogene Umstände zeigen Hofstetter und Hornung wie relevant eine vielschichtige Betrachtung historischer Lebenswelten ist. Jakob Rudolf Fosters Resilienz ist wohl der beeindruckendste Aspekt seiner Geschichte. Trotz juristischer Verfolgungen, Demütigungen und Bedrohungen positioniert er sich stets als selbstbewusster „Urning“. Er hört niemals auf Ungerechtigkeiten zu kritisieren und ruft zur Gründung einer Vereinigung der Unterdrückten auf.

Nach der Veröffentlichung seiner Autobiografie verschwindet Forster langsam aus den Archiven, er verstirbt am 8. Oktober 1926. Jakob Rudolf Forster wird heute als erster schwuler Aktivist der Schweiz bezeichnet. „Der Urning“ zeigt ihn als faszinierenden Pionier einer größeren Bewegung und einen mutigen Mann, welcher trotz unzähliger Unterdrückungen, Verweise und Inhaftierungen zu seiner Identität stand und sich schon früh für Gleichberechtigung einsetzte. Hofstetter und Hornung sprengen außerdem den Rahmen einer traditionellen Biografie. Durch ihren breiten Quellenkorpus und Bemühungen, die einzelnen Lebensabschnitte Forsters historisch einzuordnen, bieten sie interessante Einblicke in die Sozialgeschichte des späten neunzehnten Jahrhunderts. Komplexe Prozesse werden in Bezug auf den Umgang mit Homosexualität beleuchtet und führen zu einem besseren Verständnis heutiger Diskurse in diesem Bereich. In ihrem Vorwort appellieren die Autoren außerdem mit einem Aktualitätsbezug an die Leser*innen:

„Die Biografie verdeutlicht damit auch die Gefahr eines Rückfalls in die Geschichte: Die Ziele der Emanzipation sind erst erreicht, wenn in allen Bereichen der gleiche Rechtsstatus für nicht heterosexuelle Menschen erreicht ist und ihnen mehr als nur wohlwollende Toleranz entgegengebracht wird – eine umfassende Akzeptanz ist gefordert, und dafür braucht es eine breite Sichtbarkeit des Themas in der Gesellschaft“(S. 9).

Philipp Hofstetter, René Hornung, Der Urning. Selbstbewusst schwul vor 1900. Zürich: Hier und Jetzt Verlag 2024 (erhältlich bei Löwenherz)

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