office@qwien.at   +43 (0)1 966 01 10

Neues Standardwerk zur NS-Verfolgung

Der deutsche Medizinhistoriker Günter Grau hat ein umfangreiches Lexikon zur Homosexuellenverfolgung 1933-1945 vorgelegt. Er fasst darin nicht nur seine jahrzehntelange Beschäftigung mit der Verfolgung Homosexueller in der NS-Zeit zusammen, sondern legt damit ein Standardwerk vor, bei dessen Lektüre QWIEN natürlich die Einträge besonders interessiert haben, die mit Österreich in Verbindung stehen. ZU SPÄT nennen Carola Dertnig und Julia Rode ihr temporäres Mahnmal am Morzinplatz, das an das Schicksal von in der NS-Zeit verfolgten Schwulen, Lesben und Transgender erinnert. Zu spät, meinen sie, hätte auch die Forschung über diese lange Zeit verdrängten Opfer eingesetzt. Dieses Forschungsdefizit spiegelt auch Günter Graus Lexikoneintrag über Österreich wider. Auf knapp zwei Seiten referiert Grau die rechtliche Entwicklung und den Aufbau der NS-Verfolgungsinstitutionen, die ersten Schritte der Gestapo, die ab September 1939 die Verfolgung Homosexueller (mit Ausnahmen) der Kriminalpolizei überließ.

Temporäres Mahnmal am Morzinplatz

Da selbst der von den Nationalsozialisten verschärfte §175 keine rechtliche Handhabe gegen Lesben bot, ist der Diskussion über die Angleichung des österreichischen Strafrecht, das die ganze Nazizeit über in Kraft blieb, besonders in dieser Frage breiten Raum gewidmet. In Österreich wurde der §129Ib auch gegen Lesben angewandt und gerade Österreicher taten sich in dieser Frage besonders hervor. Auf der Seite der Befürworter für die Ausweitung der Strafbarkeit von Lesben trat der spätere Rektor der Universität Wien, Roland Grassberger, auf. Der von der austrofaschistischen Regierung wegen seiner nationalsozialistischen Gesinnung zwangspensionierte ehemalige Rektor der Universität Wien, Wenzel Graf Gleispach, war hingegen der der Meinung, dass „bei der verhältnismäßig bescheidenen Rolle der Frau im öffentlichen Leben“, eine Verfolgung von Lesben keine strafrechtliche Priorität habe. Angefeuert wurde die Diskussion durch das SS-Blatt Das Schwarze Korps mit antilesbischen Hetzartikeln. Zu einem Ergebnis führte sie allerdings nicht. Die Hinweise auf Gleispach und Grassberger zur Strafwürdigkeit von Lesben finden bei Grau keine Erwähnung. Sie mögen nur von regionalgeschichtlichem Interesse sein, zeigten aber auch, dass Österreicher nicht nur am Völkermord an den Juden beteiligt, sondern auch bei der Verfolgung von Lesben und Schwulen im Sinne des Regimes tätig waren. Grassberger konnte überdies sein in der NS-Zeit erarbeitetes Know-How als Experte in Fragen Homosexualität in der Nachkriegszeit nutzen, und als Gutachter die ÖVP und selbst die Verfolgungsbehörden der BRD beraten. Unverständlich ist, warum der Aufsatz von Angela H. Mayer über die Verfolgung von Lesben als Asoziale, der 2002 publiziert wurde, in der ohnehin spärlich ausfallenden Dokumentation der österreichischen Forschung steht. Schon in Invertito 4/2002 hat Claudia Schoppmann darauf hingewiesen, dass Mayer „den Beweis für die von ihr behauptete systematische Verfolgung schuldig“ bleibt. Bis heute ist dieser nicht erbracht, da Mayer ihre Quellen nicht preisgibt. Der Schlussabsatz im Österreich-Stichwort seines Lexikons gerät Günter Grau denn auch nur halbrichtig, wenn er festhält, dass verfolgte homosexuelle Männer und Frauen seit 1995 aus dem Nationalfonds der Republik für die Opfer des Nationalsozialismus Zuwendungen erhielten. Dies stimmt wohl, doch war damit keinerlei Anerkennung als Opfer verbunden. Da kein Rechtsanspruch auf Zahlungen aus dem Nationalfonds besteht, wurden lediglich sehr bescheidene Beträge in Einzelfällen ausbezahlt – für die Opfer wohl mehr „Almosen“ als „Entschädigung“. Einen Rechtsanspruch erhielten die homosexuellen Opfer erst mit der Reform des Opferfürsorgesetzes 2005. Diesen wesentlichen Unterschied erwähnt Grau wie die Aufnahme ins Opferfürsorgegesetz und damit erst tatsächliche Anerkennung als Opfergruppe mit keinem Wort.

Hotel Metropol am Morzinplatz, Wiener Gestapo-Zentrale (Foto: DÖW)

Etwas salopp gerät dem sonst so sachlich formulierenden Grau seine Einschätzung des §129Ib im Artikel Lesbische Frauen. Im Rahmen der Diskussion über die Strafwürdigkeit sexueller Praktiken unter Frauen bezeichnet er die in Österreich gültige Rechtslage „als Relikt aus der Strafrechtspflege der Monarchie“. Was nach veralteter Praxis klingt, war aber für Lesben alltägliche Realität. In Österreich wurden seit dem Strafrecht von 1803, das den späteren §129 fast wortident, wenn auch mit geringerem Strafmaß, enthielt, Schwule und Lesben gleichermaßen, wenn auch mit unterschiedlicher Intensität, verfolgt. Das Relikt der Monarchie war praktiziertes Recht und bot auch bei der Verfolgung schwuler Männer Möglichkeiten, die der deutsche §175 erst nach der Verschärfung durch die Nationalsozialisten 1935 zuließ. Seit einem Urteil des Cassationsgerichtshofs 1906 war es in Österreich möglich, unter bestimmten Umständen auch den Versuch einer homosexuellen Handlung zu bestrafen, wohingegen im Deutschen Reich und auch in der Weimarer Republik „beischlafähnliche Handlungen“ nachgewiesen werden mussten. Dieses real exekutierte „Relikt“ war auch Ausdruck eines auch heute noch lebendigen absolutistisch-paternalistischen Rechtsempfindens, das auch die Basis für den problemlosen Gleichklang mit der nationalsozialistischen Ordnung darstellte. In Homosexuelle Nazis geht es natürlich um Röhm und die Schuldzuweisungen von Teilen der deutschen Linken, die selbst Wiedergutmachung an Schwulen in der Nachkriegszeit mit der Behauptung verhinderten, dass homosexuelle KZ-Häftlinge mehrheitlich Nazis gewesen seien. Eine Frage stellt in diesem Zusammenhang auch Grau nicht, weil sie auch in der Forschung bislang sträflich vernachlässigt wurde. Grau stellt die Stereotype von homosexuellen Nazis in den Mittelpunkt seines Lexikonartikels. Doch wie geht man mit der Geschichte von Männern um, die sich als Unterstützer und Mittäter des NS-Regimes mitschuldig gemacht hatten, durch eine Verurteilung wegen Homosexualität aber plötzlich auf der Opferseite stehen? Ohne ihnen den Opferstatus abzusprechen, waren sie auch Homosexuelle Nazis jenseits aller Stereotype. Diese homosexuellen Nazis, die gleichzeitig Opfer des von ihnen gestützten Regimes waren, auszublenden, heißt auch einen Teilaspekt der schwul/lesbischen Geschichte auszublenden. Und gerade in Österreich haben wir eine Reihe solcher Fälle dokumentiert. Österreichbezüge sind sonst gering. So hätte sich im Artikel über Lagerhomosexualität die Geschichte von Rosa Jochmann angeboten, zumal in diesem Fall versucht wurde, ihre Homosexualität (sie war als sozialistische Widerstandskämpferin politische Gefangene mit einem roten Winkel) in der Nachkriegszeit politisch zu instrumentalisieren. Ein Fall, der auch die fortgesetzte Verfolgung von Schwulen und Lesben im Nachkriegs-Österreich illustriert. Liest man vom Schicksal Gertrude Sandmanns im Artikel Lesbische Frauen hätte man sich auch einen eigenen Artikel über U-Boote, also über untergetauchte und versteckte Schwule und Lesben gewünscht. Auch hier hätte sich der Fall von Dorothea Neff, die ihre jüdische Freundin Lilly Wolff vier Jahre in ihrer Wohnung versteckte, angeboten. Außerdem zeigen neuere Forschungen, dass es weitere Fälle von lesbischen Frauen gibt, die ihre Freundinnen versteckt hielten. Diese Fälle erzählen von einem bislang auch in der Forschung wenig beachteten Aspekt lesbischer (Über)Lebensrealität im Nationalsozialismus. Fraglich ist, warum ein Lexikoneintrag zum Thema Exil fehlt. Die Vertreibung ist ebenfalls ein Aspekt der Verfolgung, der nicht gänzlich vergessen werden sollte. Schwul/lesbische Fragen werden auch in der Exilforschung weitgehend ausgeblendet, wenn nicht eine Handvoll Prominenter wie die Geschwister Klaus und Erika Mann und deren Kreis im Zentrum der Auseinandersetzung stehen. Bei einem lexikalischen Großunternehmen wie diesem erscheint es kleinmütig, auf Ungenauigkeiten oder Fehlstellen hinzuweisen. Dass österreichische Aspekte wenig vorkommen, liegt auch an der hierzulande wenig präsenten Forschung auf dem Gebiet der Verfolgung Homosexueller in der NS-Zeit. Nach wie vor fehlt es hierzulande an der entsprechenden Grundlagenforschung, ein Manko, das erst langsam – auch durch die Arbeit von QWIEN – behoben wird. Die Leistung Günter Graus bei der Zusammenstellung seines Lexikons wird dadurch nicht geschmälert. Es wird für lange Zeit das zentrale Standardwerk für Forschende und Interessierte bleiben. Eine ausführliche Besprechung des Vorworts von Rüdiger Lautmann folgt.

Günter Grau: Lexikon zur Homosexuellenverfolgung 1933-1945. Institutionen, Personen, Betätigungsfelder. Münster: LIT-Verlag 2011

Erhältlich bei Buchhandlung Löwenherz

Das interessiert Dich vielleicht auch ...

en_GBEnglish (UK)