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Auf der Suche nach der sexuellen Freiheit

Als Arzt und Soziologe war Volkmar Sigusch von 1973 bis 2006 Direktor des Instituts für Sexualwissenschaft im Klinikum der Universität Frankfurt/Main ist weltweit einer der renommiertesten Sexualforscher. Ein neues Buch sammelt Texte von Sigusch aus mehreren Jahrzehnten. QWIEN hat es gelesen. Volkmar SiguschAuf der Suche nach der sexuellen Freiheitbeinhaltet eine Sammlung von Veröffentlichungen Siguschs, die innerhalb der letzten Jahrzehnte in Zeitungen und (Fach-)Zeitschriften publiziert wurden, und liest sich deshalb wie ein Überblick über sein Lebenswerk. Sigusch behandelt dabei die großen Veränderungen des „Mundus sexualis“ ebenso wie das Selbstverständnis der Sexualwissenschaft, die Prämissen der Sexualpolitik und Phänomene wie Homosexualität, Pädosexualität und „Neosexualitäten“ wie Bi- oder Asexuelle. Als Begründer der deutschen Sexualmedizin vermag es Sigusch leichthändig, die sexuellen Revolution(en) selbst zu historisieren sowie deren „Glanz und Elend“ in großem Kontext zu bewerten. Sein Befund ist letztlich ein bestürzender: Aufgebrochen in eine Zukunft von grenzenloser sexueller Freiheit stecken wir nach wie vor tief im vermeintlich überwundenen sexuellen Elend von einst, die gegenwärtige Übersexualisierung des Alltages hat die alltägliche Sexualität mitnichten befreit. 1981 startete Sigusch eine Unterschriftenaktion zur Abschaffung des (damals bereits reformierten und auf „Unzucht“ mit unter 18-jährigen reduzierten) Paragraphen 175. Dankenswerterweise sind in dem Band zustimmende wie ablehnende Antworten abgedruckt, die Sigusch auf seinen Brief erhielt. Sehr interessant, wie die Konservativen in der deutschen Geisteselite sich winden, um nicht zu unterschreiben! Und ebenso interessant, mit welchen Argumenten sie es taten, zumeist mit dem alten „Schutz der Jugend“, der auch die Abschaffung des analogen § 209 StGB in Österreich jahrelang verhinderte. Doch gerade in diesem Feld war dem Sexualwissenschaftler nicht beizukommen: „Zwischen der kindlichen Sexualität und der eines Erwachsenen klafft ein unüberwindlicher Abgrund, der nur durch mehr oder weniger erkennbare Gewaltanwendung und Machtausübung überwunden werden kann – mit den bekannten Folgen.“ Sigusch wendet sich scharf gegen die unter manchen Reformpädagogen immer wieder ins Spiel gebrachte vermeintliche sexuelle Selbstbestimmung von Kindern. Und wie er in einem Zeit-Interview vom Mai 2010 bekräftigte: „Die Opfer müssen ins Zentrum der Überlegungen und Entscheidungen gerückt werden. Kinder und Jugendliche sollten in der Gesellschaft kraft Verfassung eigene Rechte, ja Priorität bekommen.“ In einem kurzen Beitrag für die Frankfurter Rundschau aus dem Jahr 2007, der ebenso in dem Sammelband enthalten ist und den hübschen Titel „Gibt es schwule Schafe?“ trägt, schrieb Sigusch ein paar Zeilen, die seine Haltung zur Homosexualität verdeutlichen können: „Für die kritische Sexualwissenschaft jedenfalls ist es ein Ungedanke, sich Geschlechtsidentität und Erotik organisch bestimmt vorzustellen. Dass alle Menschen, unabhängig vom körperlichen Geschlecht, erotisch und sexuell aufeinander und miteinander reagieren können, ist ein menschliches Vermögen, das allgemein bekannt ist und weder allein auf biologische noch allein auf psychosoziale Sachverhalte zurückgeführt werden kann. Wie sich dieses Vermögen ausbildet, wie es erlebt wird und gelebt werden kann, bestimmt die jeweilige Kultur. So ist beispielsweise die Differenz zwischen der antiken mannmännlichen Liebe und unserer gegenwärtigen Homosexualität gewaltig.“ Die Fortsetzung liest sich wie ein Credo: „Im Grunde sind unsere Erotik und unsere Sexualität Kunstwerke. Und Gerechtigkeit und Freiheit können Minderheiten nur aus Gründen der Vernunft oder solchen einer menschenfreundlichen Ethik erhalten. Die Natur schweigt dazu.“

Volkmar Sigusch: Auf der Suche nach der sexuellen Freiheit Campus Verlag, 294 Seiten, EAN 9783593394305

Erhältlich bei Buchhandlung Löwenherz

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