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Schwule Liebe, literarisch

Was für ein Wälzer! Über 500 Seiten dick, knallrot mit einem verhalten lächelnden Männerpaar auf dem Cover und dem rührenden Titel Ach, nur’n bisschen Liebe. Der Untertitel verspricht eine trockene literaturwissenschaftliche Studie: Männliche Homosexualität in den Romanen deutschsprachiger Autoren in der Zwischenkriegszeit 1919 bis 1939. Trocken? Mitnichten! Denn die Untersuchung von Stefan Müller ist eine lohnende und spannende Lektüre, meint Zentrum QWIEN. Der Text ist selbst im theoretischen Einleitungsteil auch für „Laien“ sehr flüssig, die literaturgeschichtlichen Analysen sind spannend erzählt. Kurz für Alle, die sich für die Literatur dieser Zeit und die Darstellung Homosexueller in den Büchern von bekannten Autoren wie Joseph Roth, Alfred Döblin, Hermann Hesse oder Klaus Mann, aber auch unbekannterer Autoren wie Erich Ebermayer, Karl Tschuppik oder Hanns Heinz Ewers interessieren, ein Gewinn. Bewusst schloss Stefan Müller Texte, die sich ausschließlich an schwule Männer oder die in Verlagen publiziert wurden, die sich an ein Szenepublikum wandten, aus. Er untersuchte Bestseller des allgemeinen Sortiments, worunter sich eine Reihe heute vergessener Autoren finden, aber auch Werke von Autoren, die zwar zu Lebzeiten an Stückzahlen weit hinter den Vergessenen blieben, die aber Eingang in den literarischen Kanon gefunden haben. Darunter können sich auch offen schwule Autoren wie Klaus Mann, von dem Stefan Müller vier Romane in seine Analyse einbezieht, oder Ludwig Renn finden, dessen Roman Vor großen Wandlungen heute nur mehr SpezialistInnen bekannt sein mag, der aber wegen seiner Darstellung des Prototypen des brutalen schwulen Nazis eine verheerende Wirkung für die Emanzipation von homosexuellen Männern in der Nachkriegszeit hatte. Eingebettet ist die Interpretation von Renns folgenschwerem Roman in ein Kapitel, das Stefan Müller Die Inszenierung des schwulen Nazis nennt, einem von sechs thematischen Großkapiteln, die sich mit der Darstellung von Homosexualität in Kindheit und Jugend, unter Erwachsenen, oder beim Militär und mit Themenbereichen wie Homosexualität und Gewalt sowie Homosexualität und Rechtauseinandersetzen. In Zusammenhang mit Renn werden neun weitere Romane mit diesem thematischen Schwerpunkt, oder einer im Roman wichtigen Figur oder Passage vorgestellt. Und dabei erweist sich Stefan Müllers Systematik als absoluter Glücksfall, jeder Text wird einzeln vorgestellt, die homosexuelle Thematik herausgearbeitet und in Zusammenhang mit anderen Autoren, Zeitumständen und politischem Hintergrund interpretiert.

Was diese literaturwissenschaftliche Studie so lesenswert macht, ist die Fähigkeit Stefan Müllers spannend und flüssig erzählte Literaturgeschichte mit wissenschaftlicher Genauigkeit zu verbinden – die Fußnotenzahlen kann man ja getrost überlesen, auch wenn sich in mancher Anmerkung spannende Detailinformationen und Querverweise finden. Seine Romaninterpretationen machen Lust auf die Originaltexte, wie etwa Joseph Roths Das Spinnennetz, in dem der gefeierte Wiener Schriftsteller schon lange vor Renn einen schwulen Nazi in die Literaturgeschichte einführte. Klarsichtig zeigt Müller, wie problematisch die Figuren Roths, der sich nicht grundsätzlich gegen Homosexuelle ausspricht, schlussendlich sind. In seinem 1923/24 erschienen Zeitroman erzählt Roth vom Aufstieg der Nazis unter der Führung des brutalen Homosexuellen Prinz Heinrich, der sich den an sich heterosexuellen Opportunisten Theodor Lohse für sexuelle und andere Dienste hält. Roth instrumentalisiert dabei Homosexualität, denn es sind „letztlich speziell homosexuelle Eskapaden […], die den Sittenverfall der Rechtsradikalen abbilden“, wie Müller schreibt. Die Liste der AutorInnen, die in ihren Romanen schwule Nazis darstellten, reicht von Lion Feuchtwanger, über Ewers, Ernst Glaeser, Ernst Weiß bis zu Vicki Baum. Man hat Lust ans Bücherregal zu treten und etwa Alfred Döblins Berlin Alexanderplatz herauszuziehen und die Passagen nachzulesen, die Müller in seiner Interpretation zitiert. In zwei Kapiteln widmet er sich dem Berliner Stadtroman und zeigt dabei die unausgelebte homosexuelle Beziehung von Franz Biberkopf zu seinem Kumpel Reinhold, die vor allem durch Gewalt geprägt ist. Das ist nicht unbedingt neu, es gibt bereits Untersuchungen zu diesem Thema, aber Müller bündelt die Interpretationen zu schlüssigen Darstellungen, die anregen, sie anhand der eigenen Lektüre zu überprüfen. Aber es finden sich auch viele Fundstücke, Romane unbekannter, vergessener AutorInnen: aus Österreich etwa Karl Tschuppiks Ein Sohn aus gutem Hause. Der österreichische Journalist und Publizist, mit Joseph Roth eng befreundet, war einem breiten Publikum vor allem durch seine historischen Biografien, etwas über Maria Theresia bekannt, konnte aber seinen einzigen Roman 1937 nur noch im Amsterdamer Exilverlag Allert de Lange veröffentlichen, da er nach den Nürnberger Gesetzen als „Jude“ galt und sich bereits früh gegen den Nationalsozialismus exponiert hatte. Er erzählt darin die homoerotisch gefärbte Geschichte zweier Jungen und in einer Parallelhandlung, die auch Einfluss auf dem Hauptstrang nimmt, die Skandalgeschichte des homosexuellen Oberst Redl. Vier von den etwa 70 vorgestellten Romanen gibt Müller eine Alleinstellung in einem eigenen Kapitel: Joseph Breitbachs Die Wandlung der Susanne Dasseldorf, Friedo Lampes Am Rande der Nacht, Otto Zareks Begierde und Hans Henny Jahnns Perrudja. Ihnen allen gemeinsam ist bei aller Unterschiedlichkeit eine differenzierte Darstellung von Homosexualität und lebendige, tiefergehende schwule Charaktere. Wie viele der von Stefan Müller vorgestellten Romane fanden sie sehr widersprüchliche Aufnahme bei der Kritik, wobei die homosexuellen Charaktere oft im Zentrum der Ablehnung standen. Aber sie unterscheiden sich auch insofern von den anderen Romanen, die Müller vorstellte. Die Darstellung der Homosexuellen ist bei ihnen vielschichtiger und differenzierter, ob sie in einen Großstadtroman wie in Zareks Begierde oder in Lampes Am Rande der Nachtauftreten, der stilistisch dem magischen Realismus zuzurechnen ist. Ach, nur’n bisschen Liebe ist eine wunderbare Fundgrube für literarisch Interessierte. Stefan Müller hat nicht nur eine große Fülle von Romanen aus der Zwischenkriegszeit nach schwulen Charakteren durchforstet, er zeigt in seinen Analysen, dass die Texte ein Spiegel der Zeit sind, dass sich in ihnen die unterschiedlichen theoretischen Erklärungsversuche für das Entstehen von Homosexualität finden, aber auch Vorurteile, Unverständnis und Hass transportiert werden. Von Emanzipation sind die schwulen Männer der Zwischenkriegzeit noch weit entfernt, im Gegenteil, mit dem Erstarken der Nationalsozialisten und ihrer Machtübernahme 1933 intensiviert sich die Verfolgung, aber in der Literatur war es – wie Müller zeigt – auch möglich positive Gegenbilder zu entwerfen. Wiederentdeckungen, wie die Romane von Breitbach oder Lampe, die in den letzten Jahren wieder aufgelegt und von der heutigen Kritik auch wegen ihrer ausgewogenen Darstellung von Homosexualität gewürdigt wurden, zeigen, dass es in einer homosexuellen Literaturgeschichte noch viel zu entdecken gibt. Stefan Müller Buch ist dabei ein kompetenter Leitfaden.

Stefan Müller: Ach, nur’n bisschen Liebe. Männliche Homosexualität in den Romanen deutschsprachiger Autoren in der Zwischenkriegszeit 1919 bis 1939 Würzburg: Königshausen & Neumann 2011 Broschur, 542 Seiten

Erhältlich bei Buchhandlung Löwenherz

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