QWIEN stellt zwei autobiografische Bücher vor, die unterschiedlicher nicht sein könnten.
„Ich vermute, die Angst davor, mich ganz offiziell als Homosexuellen zu etikettieren, hat mich zurückgehalten“, beschreibt Monty-Python-Komiker Graham Chapman eine verpasste Gelegenheit zu einem erotischen Abenteuer. In den 1960er Jahren, als Chapman sein Coming Out hatte, war es unvergleichlich schwieriger als heute zu der eigenen sexuellen Orientierung zu stehen. Aber schon im nächsten Absatz seiner „Autobiografie“ erkennt er: „Was für eine gottverdammte Zeitverschwendung“. Drei Jahre hat es gebraucht, bis er nach der verpatzten Chance „David in einem Zelt umarmte“ und sich „befreiter und froher fühlte als je zuvor im Leben“. Aber Vorsicht: Graham Chapman war neben John Cleese einer der Masterminds von Monty Python und streckenweise liest sich die Autobiografie eines Lügners wie das Skript einer Show der britischen Komikertruppe. Skurrile Sprünge in der Handlung, Nonsensdialoge und die Montage- und Schnitttechnik erinnern an die Filme und TV-Shows der Pythons. Auch sollte man die erzählten Fakten nicht immer ganz ernst nehmen, denn Chapman nimmt sich durchaus Freiheiten bei der Erzählung seines Lebens. Andererseits thematisiert er offen sein Trunksucht und auch der oben geschilderten Szene darf man Glauben schenken, denn bei dem erwähnten David handelt es sich um seinen langjährigen Partner, den Schriftsteller David Sherlock, der auch als einer der Co-Autoren der „Autobiografie“ genannt wird. Dass sich Chapman schon 1970, am Beginn seiner Karriere mit den Monty Pythons, in Interviews seine Homosexualität öffentlich machte, war mutig, seinem Erfolg in Filmen wie Ritter der Kokosnuss oder Das Leben des Brian, in denen er die Hauptrolle spielte, tat es keinen Abbruch. Sein Alkoholismus führte aber zu einer zunehmenden Entfremdung von seinen Komikerkollegen und zu schweren gesundheitlichen Problemen, denen er 1989 erlag. Dass seine im Original schon 1980 erschienene „Autobiografie“ trotz der Popularität von Monty Python im deutschsprachigen Raum erst 2012 auf deutsch erscheint, mag vielleicht daran liegen, dass Harry Rowohlt er jetzt Zeit fand das Werk des britischen Komikers kongenial einzudeutschen. Es gibt wohl keinen Besseren als Rowohlt für die Übersetzung eines Werks, das zwischen subtiler Komik und derbem Kalauer changiert.
„Ich erinnere mich, dass die Jeans der coolen Jungs immer die richtige Patina hatten“, heißt es in einer der Erinnerungsminiaturen des amerikanischen Künstlers Joe Brainard, die auch mehr als dreißig Jahre brauchten, um in deutscher Übersetzung zu erscheinen. Dabei half sicher der Hymnus Paul Austers, der Brainards schmales Buch zu einem seiner Lieblingsbücher erklärte und vorgab es in den dreieinhalb Jahrzehnten seit seinem ersten Erscheinen „insgesamt vielleicht acht Mal“ gelesen zu haben, was ich mir persönlich schwer vorstellen kann. Denn Ich erinnere mich lässt sich kaum von Seite 1 bis zum Ende lesen, wie ein Roman oder eben eine Autobiografie, wie jene von Chapman. Die kurzen Eintragungen Brainards folgen weder einer Chronologie noch einer anderen Systematik und ergeben als Ganzes doch eine Geschichte, die Erinnerungsgeschichte Brainards.
Vielmehr regt Brainard dazu an, eigene Erinnerungsbilder zu finden, wenn er etwa schreibt: „Ich erinnere mich an uralte Leute, als ich selbst noch sehr jung war. In ihren Häusern roch es komisch.“ Und er setzt sich in vielen Erinnerungsfetzen mit seiner Homosexualität auseinander, sei es wenn er sich an schwule Ikonen erinnert oder an eigene Erfahrungen: „Ich erinnere mich, dass ich plötzlich darauf achtete, ‚wie‘ ich meine Zigarette in Homo-Bars hielt.“ Als Künstler war er Teil der vibrierenden New Yorker Kunstszene der 1960er und 1970er Jahre, ohne aber den großen Durchbruch zu schaffen. Vielleicht war auch dafür seine Schüchternheit mit eine Ursache, die auch in der schwulen Subkultur immer wieder zu Enttäuschungen führte: „Ich erinnere mich, dass ich mir Vorwürfe machte, nicht die Jungs abzuschleppen, die ich wahrscheinlich hätte abschleppen können, weil ich Angst vor einer Abfuhr hatte.“ Als Joe Brainard 1994 an einer Lungenentzündung starb, die durch seine HIV-Infektion ausgelöst wurde, hinterließ er nicht nur dieses kleine Büchlein, das so viel Anregung zum eigenen Weiterdenken beinhaltet, sondern auch ein umfangreiches malerisches und grafisches Werk, zu dem auch Comics zählten. Und so verbindet die sonst so gegensätzlichen Männer Brainard und Chapman doch noch etwas: Harry Rowohlt übersetzte nicht nur Chapmans Autobiografie sondern auch Brainards Kultcomics 1984, der auch auf deutsch mehrere Auflagen erlebte.
PS: Joe Brainard stand auch Pate für eine lose Serie von Artikeln, die QWIEN auf seiner Website veröffentlicht: Ich kann mich erinnern und den Aufruf Eure Erinnerungen mit uns zu teilen, damit sie nicht verloren gehen. Linktipps: Offizielle Website von Joe Brainard und eine Seite, auf der sich FreundInnen und WeggefährtInnen, unter ihne Brad Gooch oder Edmund White, in Videobotschaften an Joe Brainard erinnnern.
Joe Brainard: Ich erinnere mich. Mit einem Vorwort von Paul Auster. Übersetzt von Uta Goridis. Zürich: Walde + Graf 2011
Graham Chapman: Autobiografie eines Lügners. Übersetzt von Harry Rowohlt. Berlin: Haffmans & Tolkemitt 2012
(Erhältlich bei Buchhandlung Löwenherz)
Jedem Buch der Verlags Haffmans & Tolkemitt liegt ein Code bei, mit dem man das Buch gratis in einer E-Book-Version downloaden kann.