Ines Rieder stellt die autobiografische Spurensuche der Journalistin Carolin Emcke über ihr Coming Out vor. „In meiner Kindheit, in meiner Schule, in unserer kleinen Welt in den siebziger und achtziger Jahre, blieben Homosexuelle unbestimmt… Es drang zu uns nicht durch. Für uns blieb Homosexualität etwas Irreales, Unwirkliches, Heimliches.“
Das war für mich das Erstaunlichste beim Lesen, Carolin Emcke, 1967 geboren und in einer nicht genannten westdeutschen Stadt aufgewachsen, reflektiert ihre Kindheit und Jugend und ich habe immer wieder das Gefühl, dass die Zeit stehen geblieben sei. Was steht frag ich mich: meine Zeit oder ihre Zeit? Immerhin ging Carolin Emcke zur Schule als die „sexuelle Revolution“ der 60er Jahre und die große Welle der feministischen Frauenbewegung Europa schon erfasst hatten – alles Themen, die in meiner Kindheit und Jugend in den 60er Jahren erst im Anrollen waren. Es gibt zwei Möglichkeiten: die beiden von mir genannten – die „sexuelle Revolution“ und der Feminismus – waren nur an einigen wenigen städtischen Orten verankert und waren nicht zu den anderen Orten durchgedrungen, oder und das halte ich für Wahrscheinlicher, homosexuelles, schwules, lesbisches, gleichgeschlechtliches Verlangen war noch auf keinem Radar aufgetaucht und konnte deshalb von einer, die in den 70er und 80er Jahren erwachsen wurde, vorerst gar nicht als solches wahr genommen werden. Die gesellschaftliche Auseinandersetzung mit Homosexualität, die hat in Deutschland und in der Folge auch in Österreich erst in den 90er Jahren stattgefunden. Die Autorin stellt deshalb auch fest : „Natürlich gehe ich auf den Christopher Street Day als lesbische Frau, und mir sind alle Demonstrationen wichtig, auf denen es um politische oder soziale Rechte von Schwulen und Lesben geht.“ Die rechtlichen Möglichkeiten ein nicht-diskriminiertes Leben als homosexueller Mensch zu führen, sind im Laufe der beiden letzten Jahrzehnte viel besser geworden – die Gleichstellung in allen Bereichen fehlt jedoch noch. Und das nur solange wir in gewissen Räumen und Staaten bleiben – auch wenn die Zahl im steigen ist, es gibt noch genügend Orte, über die Carolin Emcke schreibt: „Die Lüge ist zu einem Lebensgefährten geworden. Den Satz hab ich dreimal geschrieben und wieder gelöscht. Ich wünschte, es wäre nicht wahr, und deswegen überschreibe ich, lügend, den Satz wieder, aber er bleibt wahr. Die Lüge begleitet mich. Auf allen Reisen…“
„Diese überhöhte Sensibilität gegenüber der sozialen Gewohnheit des Lügens teilen nicht nur Homosexuelle, sondern alle, die sich nach etwas gesehnt haben, das sozial inakzeptable war, die sich ihre ästhetische, existentielle oder politische Freiheit erst gegen den Widerstand einer Familie, einer Religion, einer Gesellschaft erobert mussten, alle, die unsichtbar oder unhörbar zu sein hatten, die sich verschleiern oder verstellen mussten für eine Weile, verstehen diese nahezu körperliche Freude, die es bereiten kann, einfach nur die Wahrheit zu sagen über sich selbst, einfach nur ohne Kopftuch auf der Straße zu laufen oder einfach nur mit Kippa, als Frau in einem Restaurant eine andere Frau zu küssen oder einfach nur Kleider zu tragen als Mann.“
Im großen autobiographischen Bogen, den Carolin Emcke spannt, wird transparent, wie sehr – um wieder einen alten feministischen Slogan aus dem Hut zu ziehen – das Persönliche das Politische braucht und wie das Politische ohne Persönliches farb- und kraftlos bleibt. Das macht die Lektüre so empfehlenswert – sie regt dazu an, über die eigenen Erfahrungen nachzudenken und daraus die Lust, das Begehren zu schöpfen sie im politischen Handeln umzusetzen. Carolim Emcke: : Wie wir begehren. Frankfurt/M: S. Fischer 2012 (erhältlich bei Löwenherz)