Die blaue Brosche
Der Restaurator und Künstler Max Kübeck hat seine Familiengeschichte großteils nach Dokumenten mit romanhaften Passagen geschrieben und gibt dabei tiefe Einblicke in die Geschichte Österreichs. Andreas Brunner hat es gelesen.
Zugegeben, man muss schon ein gewisses Faible für mitunter recht verwirrende Verwandtschaftsverhältnisse in adeligen Familien haben oder Verständnis aufbringen für die für Unwissende recht undurchsichtigen Unterschiede zwischen reichsunmittelbaren und – ja wie sagt man? – „normalen“ Grafen. Aber Max Kübecks erstes Buch ist weit mehr als die Geschichte einer steirischen Adelsfamilie mit dunklen Geheimnissen, mehr als eine Chronique scandaleuse einer nach der Abschaffung des Adels nach der Katastrophe des 1. Weltkriegs unverdrossen an ihren Dünkeln festhaltenden Klasse. Rücksichtslos legt Kübeck die Geschichte seiner Familie offen und bricht mit einer Reihe von Tabus, die nicht nur in adeligen, katholisch-konservativen Kreisen lieber unter der Decke gehalten werden: Homosexualität, Nationalsozialismus und jüdische Verwandtschaft.
Die blaue Brosche, ein Familienerbstück, das seit Generationen in der weiblichen Linie der Familie vererbt wurde und nun in Ermangelung weiblicher Erbberechtigter von seiner Mutter an den Erzähler weitergereicht wurde, wird zum Angelpunkt seiner Familiengeschichte. Warum sie gerade der unverheiratete und offen schwul lebende Sohn „erbte“, ist auch ihm ein Rätsel. Die Brosche galt als Geschenk der Kaiserin Karolina Augusta, einer Gemahlin von Kaiser Franz I., an eine von Max Kübecks Vorfahrinnen. Ein kleiner Zettel, den er in der Schatulle des Schmuckstück findet, offenbart ihm aber ein gutgehütetes Familiengeheimnis – nicht der Kaiserin gehörte das Schmuckstück einst, sondern einer gewissen Clara Hertz, eine Entdeckung, die der Autor trocken kommentiert: „Da haben wir aus einer Jüdin eine Kaiserin gemacht!“
Nicht nur in der NS-Zeit war die jüdische Herkunft ein Makel, schon im 19. Jahrhundert konnte sie den Ausschluss aus den höchsten Kreisen bedeuten. Verschweigen war da nur eine Strategie. Andererseits pflegte man einen latenten Antisemitismus, den Kübeck immer wieder frontal angreift: ob in den Briefen und der Autobiografie seiner Tante, der Besserwisserin, wie sie im Buch genannt wird, oder in den Aussagen mancher Familienmitglieder. Die Aufzeichnungen der Tante werden immer wieder, wie auch andere Dokumente und Zeugnisse, ausführlich zitiert. So rekonstruierte Max Kübeck Schritt für Schritt seine Familiengeschichte, Generation für Generation, Geheimnis für Geheimnis. Auch das von der lesbischen Baronin Blanche von Kübeck – der letzten „echten“ von Kübeck, denn mit ihr starb die Hauptlinie der Familie aus -, die bis zu ihrem Tode 1935 mit ihrer „Haushälterin“ Clementine in ihrem Wiener Palais lebte und auch als Schriftstellerin Bekanntheit erreichte.
Max Kübecks Vater in den späten 1930er Jahren
Zu diesem Zeitpunkt lebte der Vater von Max Kübeck noch als Junggeselle in Graz und hatte mit seiner Berufswahl schon für Unmut in der Familie gesorgt. Wie konnte nur der Sproß einer adeligen Familie, die zwar nach Aufhebung des Adels 1919 offiziell gar nicht mehr adelig war, aber den Standesbewusstsein ihrer Herkunft noch hochhielt, den bürgerlichen Beruf des Juweliers ergreifen? Doch der größte Skandal stand noch bevor. 1937 wurde er zuerst nur als Zeuge in einem Prozess gegen Grazer Homosexuelle einvernommen, zwei Jahre später sollte er, von der Gestapo verhaftet, selbst zu drei Monaten Kerker wegen „widernatürlicher Unzucht“ verurteilt werden. Seine besserwissende Schwester, die zu dieser Zeit in Paris lebte, wusste Rat:
„Ich habe all die Zeit hindurch gesucht und getrachtet, mich über diesen speziellen Fall in Bezug auf Heilung zu unterrichten, und es ist mir bestätigt worden, dass die Ehe diese Dinge ins Gleichgewicht bringt.“ Max‘ Vater wird diesen Weg wählen und, sein homosexuelles Begehren zeitlebens verleugnend, Vater von sechs Kindern werden.
Die Verurteilung wegen „Unzucht wider die Natur“ wird genauso tabuisiert werden wie die Beteiligung einiger Familienmitglieder an den Verbrechen des Nationalsozialismus. Aber Max Kübeck will nicht mehr wegschauen. Im Gegenteil: Er will hinschauen, wenn er vom Wegschauen erzählt. In der NS-Zeit drohten die Familienbande zu zerreißen, einige Mitglieder dienten sich den Nazis an, andere waren als Beteiligte am monarchistischen, katholischen Widerstand gegen das Regime in KZ-Haft. Der wegen seiner homosexuellen „Verfehlungen“ verurteilte Vater flüchtete in eine Ehe, in der der „bekehrte“ Vater heterosexuelle Normalität spielte, die im Laufe der Jahre, so ist der Autor überzeugt, zu einer „tiefen, unausgesprochenen Liebe“ zu seiner Frau geworden war. Max Kübeck schaut hin, wenn die Familie nichts gesehen haben will, vom Todesmarsch tausender ungarischer Juden, die gegen Kriegsende von Trofaiach über Vordernberg nach Eisenerz getrieben worden waren, mitten durch das enge Tal, in das sich die Familie zum Schutz vor den Bomben auf einem jahrhundertealten Landsitz geflüchtet hatte. Fassungslos fragt er:
„Waren alle am Holocaust beteiligt?“ Wenn nicht aktiv, so durch Wegschauen?
Immer wieder dringt er tief in die Familiengeschichte ein, nimmt den Fund eines Dokuments zum Ausgangspunkt einer neue Recherche und setzt sich dabei mit seiner Herkunft auseinander. So erzählt er von einer Ahnin, die nach dem Tod ihres Mannes mittellos beim Kaiser Franz Joseph um eine
„Präbende (Pfründe) als Stiftsdame im Grazer adeligen Damenstift“ ansuchte. Ihrer Bitte wurde nur gnadenhalber nachgegeben, da für die Aufnahme als Stiftsdame der Nachweis notwendig war, dass beidseitige Großeltern von adeligen Vätern abstammten. Diesen Ahnennachweis konnte die verarmte Freiin von Kübeck nicht erfüllen, da ein Großvater bürgerlicher Herkunft und erst in den Adelsstand erhoben worden war. Als würde er die Zwänge, die seine Familie bestimmten, abstreifen, fragt der Autor Max Kübeck:
„Wie weit ist es eigentlich vom Nachdenken über einen Ahnennachweis bis zu einem ‚Ariernachweis‘“?
Die Lektüre ist nicht immer einfach, die Erzählung folgt weniger einer chronologischen Familiengeschichte, vielmehr wir wie bei einer Zwiebel eine Schicht nach der anderen freigelegt. Einerseits ist
Die blaue Brosche autobiografisch mit vielen Dokumenten wie ein historisches Sachbuch andererseits romanhaft erzählt, weil auch nicht alle Personen bei ihren richtigen Namen genannt werden (können). Das Buch folgt dem Motiv einer Forschungsreise in das Innere einer Familie, wobei sich Kübeck intensiv und ohne Rücksicht auf Verluste, möchte man fast sagen, mit deren Geschichte und seiner Herkunft aus adeligen Kreisen auseinander, an deren Hybris etwas „Besseres zu sein“ er selten ein gutes Haar lässt. Und es ist wohl auch eine typisch österreichische Geschichte: Diese undurchdringliche Melange aus Katholizismus und Konservativismus monarchistischer Prägung, deren Repräsentanten und Repräsentantinnen selten zu einer wirklichen Distanz zu Faschismus und/oder Nationalsozialismus gefunden haben. Und es ist die Geschichte einer Rebellion gegen das Verschweigen, eine Geschichte, die mit Tabus bricht und die – selten genug – von homosexuellem Leben in der Vergangenheit erzählt.
Max Kübeck: Die blaue Brosche. Wien: Czernin 2014, erhältlich bei
Löwenherz
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