Ines ist nicht mehr. Die Historikerin, Journalistin und Autorin Ines Rieder starb unerwartet in den frühen Morgenstunden des 24. Dezembers 2015. Ein Nachruf von Andreas Brunner
Noch vor wenigen Wochen saßen wir beisammen und plauderten über laufende Projekte und Pläne für das neue Jahr. So wollte Ines ihre Biografie über Mopsa Sternheim, an der sie seit Jahren arbeitete und in die sie so viel Herzblut investiert hatte, fertigstellen. Und dann würden sich sicher noch viele andere Projekte auftun, die ihre Neugier erregten, denn eines war Ines zuallererst: neugierig. Neugierig neuen Spuren in der Erforschung der Geschichte von Lesben und Schwulen zu folgen, aber auch neugierig auf das Leben, das Zusammensein mit Menschen, Gespräche und, ja, auch Auseinandersetzungen. Denn Ines war auch durchaus streitbar, wenn es um Ausbeutung, Ungerechtigkeit und die Rechte von Schwächeren ging.
Ich lernte Ines um die Mitte der 1990er Jahre kennen, nachdem sie aus den USA zurückgekehrt war und Wien wieder zu ihrem Lebensmittelpunkt gewählt hatte, obwohl sie immer Weltenbürgerin blieb, zwischen Brasilien, den USA und Europa pendelnd. Ines engagierte sich in dieser Zeit im ÖLSF, dem Österreichischen Lesben- und Schwulenforum, und brachte ihre Erfahrungen aus der amerikanischen Bewegung in den Kampf um Gleichberechtigung hierzulande ein. 1954 in Wien geboren, weckte ihre Ausbildung an der Lehranstalt für gehobene Sozialberufe der Caritas Wien und ein Studium der Politikwissenschaft und Ethnologie an der Universität Wien ihren Geist für ein lebenslanges Engagement für soziale Fragen, den Kampf für die Gleichberechtigung von Frauen und die internationale Lesben- und Schwulenbewegung. 1976 ging Ines in die USA, wo sie in Kalifornien als Journalistin und Übersetzerin für das Kollektiv People’s Translation Service an der Mitherausgabe der Zeitschriften Newsfront International und Connexion. An International Feminist Quarterly arbeitete. Nach einem Aufenthalt in Sao Paulo, Brasilien, arbeitete Ines Rieder in Kalifornien für Cleis Press, heute der größte unabhängige queere Verlag der USA, wo sie mit Patricia Ruppelt 1988 unter dem Titel AIDS: The Women das weltweit erste Buch über Frauen und AIDS herausgab. Frauen sprechen über Aids, die deutsche Übersetzung, die 1991 im Fischer Taschenbuch Verlag erschien, war auch die erste umfassende deutschsprachige Publikation zu diesem Thema.
Mit durchaus gemischten Gefühlen begleitete Ines, die sich bald ganz ihren schriftstellerischen Projekten widmete, die Initiativen der Lesben- und Schwulenbewegung um Anerkennung ihrer Partner_innenschaften und den Kampf zur Öffnung der Ehe für gleichgeschlechtliche Paare. Ihre feministische Haltung machten ihr diese bürgerlichen Instrumente suspekt, und sie hinterfragte sie als Anbiederung an den trotz weltweiter Krisen immer weiter fortschreitenden Kapitalismus im Gewand neoliberaler Wirtschaftsideologien. Obwohl aus durchaus gutbürgerlichem Haus stammend, hatte Ines ein untrügbares Sensorium für soziale Ungerechtigkeit, kämpfte gegen den Raubbau an den Ressourcen der Welt und verweigerte sich mitunter radikal jedem Konsum.
Ihr Interesse für die verschüttete und verschwiegene Geschichte von Lesben mündete 1994 in Wer mit Wem? Hundert Jahre lesbische Liebe, ihrer ersten großen historischen Publikation, die später auch als Taschenbuch erschien. Im Mittelpunkt standen Netzwerke lesbischer Frauen in Berlin, Paris, London und New York. Wiener Geschichten wird man in diesem Band nur am Rande finden, in den 1990er Jahren war auch wenig über diese bekannt. Es sollte das Verdienst von Ines Rieder werden, mit akribischer Quellenrecherche auch hier fündig zu werden. Hatte sie eine Spur gefunden, verfolgte sie diese in Archiven, arbeitete sich durch Nachlässe, Konvolute von Briefen und Tagebüchern oder Strafakten. Ines Rieder gehörte zu den Historiker_innen, die sich mit historischen Quellen auseinander setzten und die von einer Mikrogeschichte ausgehend diese in größere Zusammenhänge stellten.
Gemeinsam mit Diana Voigt veröffentlichte Ines Rieder im Jahr 2000 eine Biografie der lesbischen Freud-Patientin Margarete Csonka-Trautenegg, die gleichzeitig eine Biografie des 20. Jahrhunderts war. Gretl, wie Ines und Diana die alte Dame, mit der sie jahrelang Gespräche führten, liebevoll nannten, war im Jahr 1900 zur Welt gekommen und starb in ihrem 100. Lebensjahr im Jahr der Veröffentlichung ihrer Biografie. In ihrem Leben spiegelte sich das Jahrhundert, die Jugend in der Zeit der k.u.k. Monarchie, ihre abgebrochene Analyse bei Freud, die dieser trotzdem zu seinem einzigen Aufsatz über weibliche Homosexualität verarbeitete, schließlich die Flucht vor der Verfolgung als „Jüdin“ durch die Nationalsozialisten und das Exil in Kuba und den USA. Mit Empathie und großer Fachkenntnis betteten Ines Rieder und Diana Voigt diese Lebensgeschichte einer Frau, die ihr Begehren trotz gesellschaftlicher Ächtung nicht verleugnen wollte, in die großen Zusammenhänge der Geschichte ein.
Inzwischen fast ein Klassiker ist Gretls Biografie in einer – um ein Nachwort von Ines Rieder ergänzten – Neuauflage unter dem Titel Die Geschichte der Sidonie C. im Zaglossus Verlag lieferbar. Es wurde in mehrere Sprachen (französisch, spanisch und portugiesisch) übersetzt und löste vor allem unter französischen Psychoanalytiker_innen, wie Beiträge bei Symposien und Tagungen, zu denen Ines mehrfach eingeladen wurde, zeigen, heftige Diskussionen aus. Als freie Journalistin, Autorin und Historikerin beteiligte sich Ines Rieder an zwei wichtigen Projekten der LGBT-Community in Österreich: 2001 fungierte sie als Mitherausgeberin von Der andere Blick. LesBiSchwules Leben in Österreich, dem Katalog zu einer Ausstellung, die nicht stattfinden konnte. Im Jahr von Europride in Wien wollte eine Gruppe von Kulturhistoriker_innen im Wienmuseum die erste große Ausstellung über Lesben, Schwule und Trans_Personen in Österreich machen, scheiterte aber am nachhaltigen Widerstand des damaligen Direktors, weshalb es „nur“ zur Publikation eines Katalogs kam.
Vier Jahre später war es soweit: Bei der Ausstellung geheimsache:leben. schwule und lesben im wien des 20. jahrhunderts, die im Herbst/Winter 2005/2006 in einer Industriehalle in der Neustiftgasse stattfand. Für die mit über 700 Objekten aus der ganzen Welt bislang größten Ausstellung zur LGBT-Geschichte Wiens konnte Ines als Co-Kuratorin auf ihr umfangreiches historisches Wissen aber auch auf ihre weitreichenden Kontakte zurückgreifen. Sie grub für die Ausstellung vergessene Künstler_innen (wie Helene von Taussig oder Helene Funke) aus und inspirierte junge (wie Sigrid Hutter) zu neuen Werken, sie zollte den ebenfalls von der Geschichte stiefmütterlich behandelten Musikerinnen Ethel Smyth oder Smaragda Berg ihren Tribut und vertiefte sich in Skandalaffären der auch in Wien durchaus wilden 1920er Jahre. Ausführlich widmete sie sich einer lesbisch/schwulen Gruppe am Wiener Volkstheater der früher 1930er Jahre, zu der klingende Namen wie Christa Winsloe und Lina Loos aber auch heute nur Kenner_innen bekannte wie Margarete Köppke oder Sybille Binder gehörten – und der schwule Egon von Jordan. Was sie in der Geschichte interessierte – die Rekonstruktion lesbischer oder schwul/lesbischer Netzwerke – lebte sie auch selbst als überzeugte Netzwerkerin.
Als solche dockte sie auch ganz selbstverständlich bei QWIEN an. Auch wenn wir nicht in allen Fragen immer einer Meinung waren, wir zogen am selben Strang. Unser gemeinsames Interesse an der Erforschung und Bewahrung der lesbisch/schwulen Geschichte Wiens in einem Allen zugänglichen Archiv verstärkte das Band. In Zusammenarbeit mit QWIEN präsentierte sie einen Vortrag über Dorothea Neff, die ihre „jüdische“ Partnerin Lilly Wolff in der NS-Zeit als U-Boot versteckte und somit ihr Leben rettete. Deren Geschichte nahm Ines zum Anlass, um sich grundsätzlich mit der bislang in der Forschung nie behandelten Frage lesbischer U-Boote in der NS-Zeit zu beschäftigen und in aufwändiger Aktenrecherche im Wiener Stadt- und Landesarchiv weitere Fälle zu suchen. Auf Basis von Aktenmaterial rekonstruierte sie auch bislang unbekannte Details über lesbisches Leben in den 1950er Jahren und veröffentlichte dazu einen Aufsatz in der historischen Fachzeitschrift Invertito.
Ihre Begeisterung für Geschichte sollte auch auf junge Historiker_innen überspringen, gerne nahm sie daher Einladungen zu Vorträgen und Workshops, etwa beim ersten Queer History Day oder bei der Tagung zur Frage eines Mahnmals für die homo- und transsexuellen Opfer der NS-Verfolgung (beide 2014) an. Eine ihre letzten größeren Veröffentlichungen erschien im Katalog zur Ausstellung Tanz der Hände im Photoinstitut Bonartes und beschäftigte sich mit den in den 1920er und 1930er Jahren in Wien gefeierten Tänzerinnen Tilly Losch und Hedy Pfundmayr.
Ines war eine großartige Geschichtenerzählerin und eine Historikerin, die ihr Wissen gerne teilte. Offen und herzlich begegnete sie den Anfragen Studierender und stellte Material zur Verfügung. Wie oft rief ich sie an, wenn ich wieder einmal eine lesbische Geschichte für meine Stadtspaziergänge brauchte. Ich konnte sicher sein, dass Ines aus ihrem historischen Schatzkästchen eine noch nicht adäquat erzählte Biografie zaubern würde. Ihre historische Expertise war gefragt, so auch für den Dokumentarfilm „Warme Gefühle“, der vom ORF im Mai 2012 ausgestrahlt wurde. Ein besonderes Faible hatte sie in den letzten Jahren für einzelne Mitglieder der Familie Mann – insbesondere die Geschwister Erika und Klaus – und deren weltumspannendes Arbeits- und Beziehungsgeflecht, zu dem auch Mopsa Sternheim zählte. So viel hätte sie uns dazu aber auch sicher zu anderen Geschichten, die sie unermüdlich recherchierte, noch erzählen können.
Ines Rieders Stimme ist aber am 24. Dezember allzu früh immer verstummt. Ihre Geschichten werden aber bleiben.
Eine Gruppenseite auf Facebook erinnert an Ines Rieder: https://www.facebook.com/groups/inesriedermemorial/
Ausschnitte aus einem Interview für das QWIEN-Projekt Stonewall in Wien (2009): https://www.youtube.com/watch?v=zfaMFiED1JA
Auswahlbibliografie:
Ines Rieder/Patricia Ruppelt (Ed.): AIDS: The Women. San Francisco 1988 (gemeinsam mit)
Ines Rieder/Patricia Ruppelt (Hginnen): Frauen sprechen über Aids. Frankfurt 1991
Ines Rieder: Feminism and Eastern Europe. Cork 1991
Ines Rieder: Wer mit Wem? Wien 1994; Taschenbuch-Ausgabe: München 1997
Ines Rieder/Diana Voigt: Heimliches Begehren: Das Leben der Sidonie C., Wien 2000; Taschenbuch-Ausgabe: Reinbek 2003
Wolfgang Förster/Tobias G. Natter/Ines Rieder (Hginnen): Der andere Blick. Lesbischwules Leben in Österreich. Wien 2001
Andreas Brunner/Ines Rieder/Nadja Schefzig/Hannes Sulzenbacher/Niko Wahl: geheimsache:leben. schwule und lesben im wien des 20. jahrhunderts (Ausstellungskatalog). Wien 2005
Paola Guazzo/Ines Rieder/Vincenza Scuderi (Hginnen): R/esistenze lesbiche nell‘ Europa nazifascista.Verona 2010
Ines Rieder/Diana Voigt: Die Geschichte der Sidonie C. Sigmund Freuds berühmte Patientin. Wien 2014 (Neuausgabe von Heimliches Begehren)
Beiträge in (Auswahl):
Ines Rieder: Die Geschichte einer ansteckenden Leidenschaft. In: Sigrid Hutter: 100 Frauen. Feldkirch 2010
Ines Rieder: Lesbische und lesbotextuale Einblicke. In: Maria Froihofer/Elke Muröasits/Eva Taxacher (Hginnen): l[i]eben und Begehren zwischen Geschlecht und Identität (Katalog zu einer Ausstellung im Joanneum Graz, 2010). Wien 2010
Ines Rieder: Auf Tour. Lesbischwules Kommen und Gehen in Österreich zu Zeiten des § 129. In: ÖGL – Österreich in Geschichte und Literatur mit Geographie, 2010, 54. Jg, Heft 3
Ines Rieder: Aktenlesen 1946-1959. Lesben in Wien im Visier der Justiz. In: Invertito. Jahrbuch für die Geschichte der Homosexualitäten, 2013, 15. Jg
Ines Rieder: Lesben lassen Hände sprechen. In: Monika Faber/Magdalena Vuković (Hginnen): Tanz der Hände. Tilly Losch und Hedy Pfundmayr in Fotografien 1020-1935 (Katalog zu einer Ausstellung im Photoinstitut Bonartes). Wien 2013
Historische Beratung:
Warme Gefühle. Vier Liebesgeschichten aus Österreich. Ein Film von Katharina Miko und Raphael Frick (A 2012)