Andrej Seuss skizziert in „Nur das eine, furchtbare – Andreas ist tot!“ die kurze, intensive Freundschaft zwischen dem jungen, Schweizer Künstler Andreas Walser und dem deutschen Schriftsteller Albert Rausch, die sich im Paris der späten 1920er-Jahre begegnen. Von Lena Leibetseder.
Es ist reiner Zufall, dass sich Albert Rausch und der Schweizer Andreas Walser 1929 im Pariser Café Dôme kennenlernen. Walser ist gerade 20 Jahre alt und sieht sich in Paris zum großen Künstler heranreifen. Rausch ist fast 50, hat in Paris eine Stelle als Pressechef des Internationalen Roten Kreuzes angenommen und hält sich selbst für einen großen Schriftsteller. Trotz ihrer Gegensätzlichkeit ist dieser Abend der Beginn einer Freundschaft.
Walser ist ein ungestümer Charakter, übermütig und lechzend nach Ruhm und Erfolg. Rausch ist älter, gesetzter, aber auch er bewegt sich in der Künstlerszene und ist ein beliebter Gast in den Cafés, der schillernde Geschichten in mehreren Sprachen erzählen kann. Beide sind offen homosexuell. Rausch ist beeindruckt von der schier unbändigen und unerschrockenen Kraft des jüngeren Malers und glaubt in ihm einen Seelenverwandten zu erkennen. Auch Walser empfindet die Bekanntschaft zu Rausch als außergewöhnlich, scheint ihr jedoch keine so übermäßige Bedeutsamkeit wie Rausch beizumessen.
Andreas Walser ist umtriebiger als Rausch, stellt sich bei Picasso vor und verkehrt in der Pariser Bohème. Er malt expressionistisch, fotografiert avantgardistisch und findet Inspiration im Pariser Nachtleben – und in Drogenexzessen. Vor allem seine Bekanntschaft mit dem drogensüchtigen Jean Cocteau scheint ihn in seinem eigenen Drogenkonsum zu bestärken. Albert Rausch versucht hingegen immer wieder, Walser von seinem übermäßigen Konsum abzubringen, dies gelingt ihm aber nie.
Nach dem Sommer 1929, einem Sommer, den Rausch in Spanien und Walser zuhause in Schweizerischen Chur verbringt, sehen sich die beiden nie wieder, pflegen jedoch einen intensiven Briefwechsel. Rausch hat nun keinen Einfluss mehr auf Walsers Drogenkonsum, merkt jedoch sehr deutlich aus den Briefen, dass der Maler immer abhängiger wird. Am 19. März 1930 stirbt der junge Künstler schließlich, wahrscheinlich an einer Überdosis. Rausch erfährt vom Tod seines Freundes, als ihm ein an Walser adressierter Brief vom 19. März mit dem Vermerk „décédé“ – verstorben – retourniert wird. Unverzüglich setzt er Walsers Eltern, mit denen er schon zuvor regelmäßigen Briefkontakt pflegte, vom Ableben ihres Sohnes in Kenntnis, und ist sehr bemüht um dessen Ansehen, vor allem in Bezug auf Homosexualität.
„Wollen Sie bitte allem misstrauen, was man Ihnen in Paris – von welcher Seite es auch sei – über Homosexualität und Homosexuelle erzählt. In dem Kunstbereich von Montparnasse sind alle Begriffe verwischt – und im Übrigen scheiden alle Urteile über diese Frage aus dem Rahmen einer rein menschlichen, sittlichen Bewertung völlig aus. […] Menschen wie Andreas – geborene Genies – stehen immer und unbedingt über dem Urteil der Konvention. […] Der grösste Bildhauer der abendlichen Welt – Michelangelo – war ausgesprochen homosexuell. Wen geht das etwas an? Und was hat das mit seinen titanischen Leistungen zu tun?“ – aus einem Brief von Albert Rausch an Walsers Eltern, 30. März 1930
In Folge kümmert sich Rausch nicht nur darum, dass Walser bei seinen Eltern in Gunst bleibt, sondern auch darum, dass dessen künstlerisches Oeuvre nicht vergessen wird, er sammelt Walsers Werke und pflegt seinen Nachlass. Außerdem wird Rausch in drei Büchern diese für ihn sehr prägende Bekanntschaft literarisch verarbeiten, darunter in einem „Requiem“ betitelten .
Anhand des Briefwechsels zwischen den beiden Künstlern sowie an weiteren Briefen, die Walser an Jean Cocteau oder seine engste Vertraute Bärby Hunger schreibt, konstruiert und ordnet der Herausgeber Andrej Seuss diese kurze Freundschaft, die vor allem auf Rausch so nachhaltigen Einfluss hatte. Der Autor hält sich dabei sehr zurück, lässt die Protagonisten ihre eigene Geschichte erzählen und fungiert nur ergänzend oder erklärend. So entsteht ein sehr realistisches, vieldimensionales Bild der beiden komplexen Persönlichkeiten und ein ehrlicher, roher Einblick in das Leben homosexueller Künstler in Paris in den Jahren vor dem Ausbruch des zweiten Weltkrieges und seinen tiefgreifenden Umwälzungen.
Andrej Seuss: Nur das Eine, furchtbare – Andreas ist tot! Die kurze Freundschaft zwischen Albert H. Rausch und Andreas Walser. Biel: Edition Clandestin, 2019, erhältlich bei Löwenherz