Das Jahrbuch für die Geschichte der Homosexualitäten Invertito feiert die 25. Ausgabe mit einem Schwerpunkt auf die queere Geschichte Osteuropas. Tara Prochaska bespricht die vielfältigen Beiträge.
Mikrohistorische Beiträge
Im ersten Abschnitt befassen sich fünf Autor:innen aus Polen, Ungarn, Lettland, Tschechien und der Ukraine mit verschiedenen Aspekten queerer Geschichte im osteuropäischen Raum. Vier dieser Beiträge befassen sich mit mikrohistorischen Auseinandersetzungen einzelner Biografien und Lebenswerke. Die Tagebücher des Letten Kaspar Aleksandr Irbes dienen als Hauptquelle für Ineta Lipsas Betrachtung männlich homosexueller Subkulturen in und um Riga zur Zeit des späten Stalinismus. Lipsa rekonstruiert urbane, schwule Lebenswelten und ihre Bedeutung für öffentliches Leben in Lettland. Neue Kommunikationsmöglichkeiten, Cruising und öffentliche Sexualpraktiken trugen zur Entstehung einer vielseitigen Sexualkultur bei.
Denisa Vídenska situiert das Lebenswerk der tschechischen Autorin Lída Merlínová im Kontext der tschechoslowakischen Gesellschaft der 1930er Jahre und nimmt dadurch Bezug auf wissenschaftliche und juristische Prozesse im Bereich nicht-heterosexueller Sexualitäten. Merlínová, welche in ihren Schriften häufig lesbischen Erfahrungen beschreibt, weist dadurch nicht nur auf die zeitgenössische Stellung weiblicher Homosexualitäten, sondern auch ihr Selbstverständnis als „invertiere“ Person, welche mit Einsamkeit, Entfremdung und gesellschaftlichen Stigmas zu kämpfen hatte, hin.
Im dritten mikrohistorischen Beitrag steht der polnische Partisan Adam Gawron im Mittelpunkt. In Hinsicht auf seine Biographie und Nachlass diskutiert Joanna Ostrowska die Bedeutung von Archiven, privaten Sammlungen von Fotografie und historischen Quellen zu queeren Geschichten in Polen. Anhand ihrer eigenen Recherche zeigt sie die dringende Notwendigkeit von alternativen Zugängen und dem Aufbrechen alter Forschungstraditionen für queere Geschichte auf.
Auch Hans P. Soetaert rückt eine Einzelperson in das Zentrum seiner Forschung. Die drei Monate, welche der französische Schriftsteller Jean Genet 1937 in Brno verbrachte, skizziert Soetaert durch tschechische Archivquellen. Heteronormative Ansichten auf Genets Leben sollen durch genauere Betrachtung dekonstruiert werden.
Erinnerungskultur
Im abschließenden Beitrag des Abschnitts zum Schwerpunktthema erzählt Lutz van Dijk von seinen Wahrnehmungen zum Erinnern in Polen in Bezug auf queere Geschichte zwischen 1939 und 2024. Mit persönlichen Einblicken in die Erinnerungskultur des Landes und Perspektiven auf aktuelle politische Entwicklungen sieht van Dijk vor allem Hoffnung und Resilienz für queeres Erinnern in Polen.
Es folgen vier Artikel, welche sich vom Schwerpunkt der Publikation abheben. Der Deutsche Bundestag gedachte am 27. Jänner 2023 erstmals den queeren Opfern des Nationalsozialismus. Zwei Redebeiträge der Gedenkveranstaltung wurden von Lutz van Dijk transkribiert.
Manfred Herzer-Wigglesworths Beitrag hinterfragt drei Arbeiten zu dem Sexologen Magnus Hirschfeld kritisch. Dabei ist die Frage, inwiefern dessen Lebenswerk als rassistisch einzuordnen ist, zentral. Den Abschluss bilden Elena Barta mit einer gedruckten Version ihrer Festrede zum Jubiläum der Lesben Informations- und Beratungsstelle e.V. und Jakob Michelsen und Moritz Terfloth mit einem Nachruf des Mediävisten und Schwulenaktivisten Bernd-Ulrich Hergemöller.
Rezensionen
Wie immer beinhaltet diese Ausgabe des Jahrbuches auch einige Rezensionen zu queerhistorischen Werken, darunter auch der Sammelband Queer Vienna: Einblicke in ein Bewegungsarchiv herausgegeben von Sebastian Felten und den Qwien Co-Leitern Andreas Brunner und Hannes Sulzenbacher.
Zum 25. Jubiläum rückt Invertito mit der queeren Geschichte Osteuropas ein Thema in den Vordergrund, welches von der westlich-zentrierten Geschichtsschreibung lange Zeit wenig Aufmerksamkeit erhielt. Von Einzelbiographien bis hin zu Erinnerungskulturen bietet diese Ausgabe vielfältige Einblicke in diesen Bereich der Geschichte. In Anbetracht auf den Überfall Russlands auf die Ukraine im Februar 2022 und der damit verbundenen Bedrohung für Aktivist:innen und Zeitzeug:innen unterstreicht Invertito nochmals die Relevanz dieser Forschungsarbeit im Vorwort der Publikation.
INVERTITO. Jahrbuch für die Geschichte der Homosexualitäten. 25. Jahrgang 2023. Beiträge zur queeren Geschichte Osteuropas. Berlin: Männerschwarm 2024 (erhältlich bei Löwenherz)