Am Holocaust-Gedenktag 2022 starten wir eine Reihe mit queeren Biografien, die wir laufend ergänzen werden. Vorerst wir der Schwerpunkt auf Biografien queerer Menschen liegen, die in der NS-Zeit verfolgt wurden. Viele dieser Biografien können nur aus dem Material der Verfolgungsinstanzen (Strafakten, Einvernahmen mit oft erzwungenen Geständnissen, Verhandlungsprotokollen) rekonstruiert werden, was einen besonderen Umgang mit den darin getroffenen Aussagen nötig macht. Nah an den Quellen, aber die Sprache der Verfolger gegen den Strich lesend, soll in den Texten versuchte werden, den Opfern ihre Würde zurückzugeben.
Wir sind uns bewusst, dass die zum Teil sehr langen Texte, die aufgrund fehlender Materialen oft nur spärlich illustriert werden können, eine Herausforderung darstellen.
Heute möchten wir an Leopold Ruf erinnern, der 1940 im Konzentrationslager Sachsenhausen zu Tode kam.
Leopold Ruf (30.10.1885 Wien – 14.4.1940 KZ Sachsenhausen)
Am späten Abend des 4. Juni 1938, es war ein kühler, wechselhafter Pfingstsamstag, lernte Leopold Ruf nächst der Hochschaubahn im Prater einen Soldaten kennen und besuchte mit ihm eine Gastwirtschaft, in der sie sich bei einigen Gläsern Bier bis fünf Uhr früh die Nacht um die Ohren schlugen. „Bezahlt hat jeder selbst, was er getrunken hatte. Wir verabschiedeten uns, nachdem wir über allgemeine Fragen gesprochen hatten“, gab Ruf später bei seiner ersten Einvernahme durch Beamte der Wiener Gestapo zu Protokoll. Denn die Begegnung mit dem Soldaten hatte Folgen gehabt.
Die „Abwehrstelle im Wehrkreis XVII“ hatte die Gestapoleitstelle Wien über einen politischen Verdachtsfall in einem Wiener Panzer-Regiment informiert: Leopold Ruf war einem jungen Panzerschützen der 6. Kompanie des Panzer-Regiments 4 verdächtig vorgekommen, da er „ sich lebhaft nach der inneren Einrichtung der grossen Mehrmanntanks erkundigte und im Grundsätzlichen auch Bescheid zu wissen schien“. Da „zunächst angenommen wurde, dass Ruf in landesverräterischer Weise zu arbeiten gewillt war“, wurde dem Schützen von der Abwehrstelle aufgetragen, mit dem Verdächtigen in Verbindung zu bleiben, was sich erübrigte, da Ruf selbst wieder Kontakt aufnahm, der zu einer ganz anderen Anschuldigung führte. Durch einen Brief Rufs kam die Abwehrstelle zur Überzeugung, „dass es sich bei Ruf um einen homosexuell veranlagten Menschen handelt“. Mit „der Bitte um weitere Veranlassung“ übergab sie den Fall damit der Geheimen Staatspolizei. Einen Monat nach der Begegnung Rufs mit den jungen Soldaten nahmen die Beamten der Gestapoabteilung II HS Anfang Juli ihre Ermittlungen auf.
Der seit 1929 arbeitslose, 53-jährige Handelsangestellte Leopold Ruf, lebte von Unterstützung, von regelmäßigen Zuwendungen seines Bruders und von den Einnahmen der Vermietung eines Kabinetts seiner Wohnung an eine Untermieterin. Das hinderte ihn offenbar nicht, Bekanntschaften und Freunde in seine Wohnung mitzunehmen. So wurde er auch am Morgen des 14. Juli um 7.00 Uhr Früh von den Gestapobeamten Hauptmann Max Häusserer, Hugo Gaida und Leopold Dunkl mit einem Liebhaber überrascht, als diese an seine Tür im Haus Lindengasse 11 im 7. Bezirk klopften und ausgestattet mit einem Durchsuchungsbefehl seine Wohnung betraten. Der 20-jährige aus Graz stammende Karl T. hatte bei Ruf übernachtet. Beide wurden verhaftet und ins Gestapo-Gefängnis am Morzinplatz gebracht.
Bei der Hausdurchsuchung wurde neben „unsittlichen Aufnahmen“ auch eine Ausgabe der „Josefine Mutzenbacher“ beschlagnahmt, viel gravierender war aber, dass die Gestapo-Beamten den Verdächtigen quasi in flagranti bei Unzuchtshandlungen erwischt hatten. Auch wenn Leopold Ruf bei seiner sofort nach der Verhaftung durchgeführten ersten Einvernahme durch Dunkl und einen Kollegen bestritt, „dass der junge Mann in meinen Bett geschlafen hat“, und behauptete, „dass er das in einem Nebenzimmer stehende Bett benützte“, stand für die Gestapo-Beamten fest, dass sie zwei Homosexuelle verhaftet hatten. Da sie die für die Anklage vor Gericht notwendigen sexuellen Handlungen aber nicht beweisen konnten, brauchten sie ein Geständnis.
In den Fängen der Gestapo
Ruf gab zu, dass er „bisexuell veranlagt“ sei, räumt aber ein: „Ich neige zwar mehr zu Männern“ und habe mich „seit frühester Jugend […] zum gleichen Geschlecht hingezogen gefühlt. Meine erste gleichgeschlechtliche Handlung habe ich meines Wissens im Alter von ca. 17 Jahren vorgenommen.“ Nachdem ihm auch eine Verurteilung nach § 129 Ib aus dem Jahr 1932 vorgehalten wurde, verteidigte er sich damit, dass die Strafe bereits getilgt sei und er bestritt „ganz entschieden, dass ich mich in den letzten Jahren, zurückliegend bis in das Jahr 1932, gleichgeschlechtlich betätigt habe.“ Den jungen, in seiner Wohnung festgenommenen Mann hatte er bereits im vorigen Jahr im Prater kennengelernt und da er eine Übernachtungsmöglichkeit gesucht hat, bei ihm übernachten lassen. Trotz „wiederholter Vorhaltungen“ bestritt Leopold Ruf aber „ganz entschieden ,mit dem jungen Mann gleichgeschlechtliche Handlungen irgendwelcher Art vorgenommen zu haben.“ Damit endet die erste Befragung durch die Gestapo und Ruf wird in seine Zelle zurückgebracht.
Währenddessen verhörte der Kriminalbeamte Hugo Gaida den erst 20-jährigen als „unterstandslos“ bezeichneten Karl T.. In der Vorführnote zu seiner ersten Einvernahme heißt es, dass er wegen des „Verdachts homosexueller Umtriebe“ verhaftet worden war. Karl T. kam aus ärmlichen, schwierigen Verhältnissen. Im Einvernahmeprotokoll gab er an, dass er als außereheliches Kind in einem steirischen Dorf geboren in seiner Volksschulzeit als „Kostkind“ bei mehreren Familien untergebracht war. „Mit ca 15 Jahren begab ich mich auf die Wanderschaft durch Oesterreich und kam hiebei auch nach Ungarn, wo ich ohne Ausweispapiere die Grenze überschritten habe.“ Verstöße gegen Aufenthaltsverbote, Verurteilungen wegen Landstreicherei, und je einmal wegen Diebstahls minderer Art (§460 StG.) und kleineren Veruntreuungen und Betrügereien (§461 StG.) füllten sein Vorstrafenregister.
Im November 1932 war er erstmals nach Wien gekommen und in ein Lehrlingsheim gezogen, wo er jedoch vergeblich auf eine Lehrstelle hoffte. Im März 1933 schloss er sich der Hitlerjugend an, in deren Parteiheim in der Böcklinstraße im 2. Bezirk versah er „teilweise Dienst und wurde auch zu Gelegenheitsarbeiten verwendet. Ich hatte dort die Kost und freies Quartier und erhielt ausserdem von Parteimitgliedern diverse Unterstützungen.“ Nach dem Verbot der Partei in Folge des missglückten Putschs und der Ermordung Bundeskanzler Engelbert Dollfuß‘ im Juli 1934 begann für Karl T. erneut eine Odyssee: Nach Orth an der Donau, wo er eine Beschäftigung bei einem Bauern wegen einer Veruntreuung verlor, kam er für 21 Monate in die Erziehungsanstalt Kaiser-Ebersdorf bei Wien, nach seiner Entlassung wieder zu einem Bauern ins Waldviertel, von wo aus er nach Ungarn floh. Von dort wiederum ausgewiesen pendelte er zwischen der Steiermark und Wien und versuchte im Prater Arbeit zu finden. „Bei der Machtergreifung der NSDAP befand ich mich in Graz, trat der SA bei und verschaffte mir durch Verkauf von Hakenkreuzen und Umrechnungstabellen einen Gelegenheitsverdienst.“
Er habe Leopold Ruf, den er schon aus dem Vorjahr kannte, im Prater getroffen und sei, da er ihn schon kannte, mit ihm auf dessen Einladung zu Fuß vom Prater bis in dessen Wohnung in der Lindenstraße im 7. Bezirk gegangen. „Während des Weges haben wir nur über politische und sonstige Tagesfragen gesprochen und sind homosexuelle Themen nicht berührt worden. In seiner Wohnung bewirtete mich Ruf zunächst mit Butterbrot und Sardinen und ich habe mich dann, nachdem ich mir noch die Füsse gewaschen hatte, auf seine Aufforderung hin, in sein im Zimmer befindliches Bett gelegt.“ Ein erster Widerspruch zur Aussage von Ruf tut sich auf, der aussagte, dass Karl T. im Kabinett geschlafen hatte. In der Folge beschreibt er im Detail onanistische Handlungen, die Ruf „an ihm vollführt“ hatte. Ob er diese intimen Details freiwillig oder unter Druck preisgab, lässt sich aus dem Protokoll nicht erschließen.
Vielleicht um nicht als homosexuell zu gelten gibt er zu Protokoll: „Für meine Willfährigkeit habe ich von Ruf keinerlei Entgelt erhalten, doch versprach er mir, als ich bei ihm im Bette lag, 1 RM wenn ich bei mir, als er sich mit meinem Gliede spielte, den Samen austreten lasse.“ Damit brachte er sich aber in die Nähe der Prostitution und gerade sogenannte Strichjungen standen im Visier der Verfolgungsbehörden, weil das „Stricherunwesen“ als besondere Gefahr für einen gesunden Volkskörper gesehen wurde. „Ich gebe weiters an, dass ich auf keinen Fall homosexuell veranlagt bin und hat sich mein Geschlechtsleben bisher nur in Frauenkreisen abgespielt.“ Er habe sich auch mit Ruf nur eingelassen, weil er „obdachlos war und wegen des herrschenden Regenwetters eine Unterkunft haben wollte.“ Zu diesem Zeitpunkt wusste der vernehmende Beamte noch nicht, dass Karl T. aus Wien abgeschafft war, also ein aufrechtes Aufenthaltsverbot gegen ihn bestand.
Das nächste Mal wurde Leopold Ruf von Gaida in Zusammenarbeit mit seinem Team-Kollegen, Kriminal-Revier-Inspektor Josef Karas erneut verhört und brach, wohl nach Vorhaltung der Aussage von Karl T., sofort ein und schilderte in allen intimen Details die gemeinsame Nacht. Er trat die Flucht nach Vorne an: „Ich gebe zu, homosexuell veranlagt zu sein, doch habe ich seit Jahren mit einem Mann nichts zu tun gehabt und mich lediglich selbst befriedigt.“ Doch dem sollten weitere Ermittlungen der Gestapo bald widersprechen. Obwohl Ruf aussagte, mit „den Personen, deren Adressen bei mir vorgefunden wurden, […] in keinerlei homosexueller Beziehung“ zu stehen, führten die Nachforschung der Gestapo zu weiteren Geständnissen.
Nach Karl T. hatte nun auch Leopold Ruf gleichgeschlechtliche Handlungen, die dem Tatbestand der „Unzucht wider die Natur“ entsprachen, gestanden. Der 14. Juli 1938 hatte für die Gestapobeamten mit einer Hausdurchsuchung begonnen und konnte für sie mit zwei Geständnissen erfolgreich abgeschlossen werden. Für Leopold Ruf und Karl T., deren Tag ebenso begonnen hatte, sollte er erst der Anfangspunkt eines noch länger dauernden Martyriums werden.
Beschlagnahmte Briefe
Ausgehend von der beschlagnahmten Korrespondenz Leopold Rufs und vorgefundener Notizzettel ermittelten die Gestapobeamten weitere Verdächtige. Ende August wurde im Militärlager Kaiser-Steinbruch ein Gefreiter einvernommen, der glaubhaft jeden Verdacht abstritt und danach von der Gestapo zum „strengste[n] Stillschweigen“ bezüglich der Vernehmung verpflichtet wurde. Der Urlaubschein eines anderen Soldaten, der bei Ruf gefunden wurde, ließ die Staatspolizei Linz im Auftrag der Gestapo Wien in Steyr ermitteln. Da es sich aber glaubhaft um eine Namensverwechslung gehandelt hatte, wurde auch dieser Ermittlungsstrang fallen gelassen. Ein Verdächtiger war inzwischen in Salzburg verstorben. Doch andere Nachforschungen führten zum Erfolg.
Ein Postkarte hatte zum ebenfalls arbeitslosen Friseurlehrling Kurt R. geführt, der wenige Wochen nach seinem 18. Geburtstag am 23. August 1938 verhaftet wurde. Seit einem Jahr Vollwaise lebte er bei seinem älteren Bruder und war wie Karl T. Mitglied der SA. Er versuchte beim Verhör erst gar keine Ausflüchte: „Ich will die volle Wahrheit sagen“, bekannte er gleich zu Beginn. Er hatte Leopold Ruf schon vor zwei Jahren in der Bedürfnisanstalt am Mariahilfer Gürtel neben der Kirche Maria am Siege kennen gelernt und dort mit ihm onaniert. „Er gab mir damals einige Zigaretten und 30 Groschen.“ (Heute unter 2,- Euro) Er traf sich mit Ruf weitere Male, diesmal aber in einer Bedürfnisanstalt am Gürtel nächst der Westbahnstraße, die näher zu Rufs Wohnung lag. Jedes Mal sollte er Zigaretten und 30 Groschen für seine sexuellen Dienste bekommen. Seine Handlungen rechtfertigte er damit, dass er in dieser Zeit Vollwaise geworden und damit sich selbst überlassen war. „Wenn ich gefragt werde, aus welchem Grund ich mich zu solchen widernatürlichen Handlungen eingelassen habe, so gebe ich an, dass ich den Einflüssen des Ruf nicht standhalten konnte und ich mich immer wieder überreden liess.“ Ob er sich bewusst war, dass er mit dieser Aussage Leopold Ruf schwer belastete? Denn damit würde Ruf vor Gericht als „Verführer“ gelten, was sich negativ auf die Bestrafung auswirkte. Die weitverbreitete Ansicht, dass man zur Homosexualität verführt werden konnte, hatten die Nationalsozialisten zu einem wesentlichen Theorie-Baustein für ihre Verfolgungspraxis Homosexueller gemacht, die deshalb auf die Identifikation solcher „Verführer“ fokussierte. Wurde man ihrer habhaft, so der Gedanke, konnten sie unschädlich gemacht werden und keine weiteren (meist jungen) Männer mit der „Seuche Homosexualität“ infizieren.
Unmittelbar nach Abschluss des Verhörs mit Kurt R. wurde Leopold Ruf erneut vorgeführt. Und auch diesmal gestand er. Neben die detaillierten Schilderungen der technischen Abläufe sexueller Handlungen zeigt er diesmal einen, nur in seltenen Fällen in den Verhörprotokollen ablesbaren Moment von Emotion. „Durch meine Veranlagung und durch R.s angenehmes und gepflegtes Aeussere fühlte ich mich zu ihm hingezogen.“ Doch verstärkte er unwillentlich in der Folge auch die Zuschreibung des „Verführers“: „Bei unserem Bekanntwerden hatte ich den Eindruck, dass R. noch unverdorben war und erst durch meinen Einfluss sich zu widernatürlichen Handlungen hinreissen liess.“ Oder wollte er mit dieser Aussage Kurt R. entlasten, da er ihm vielleicht doch viel näher stand als er zugab? Leopold Ruf bekannte, dass er „in den vergangenen 5 Jahren […] ungefähr mit ca 10 Burschen im Alter von 20 bis 30 Jahren homosexuell verkehrt“ habe, die er gewöhnlich während seiner Spaziergänge im Wurstelprater kennen gelernt hatte.
Ermittlungen im Schneeball-Prinzip
Doch der Gestapo reichte es noch nicht. Dank des Schneeball-Prinzips galt es ja nicht nur Leopold Ruf zu überführen, sondern alle seine Sexualpartner zu eruieren. So wurde sie wenige Tage später im Fall eines weiteren Verdächtigen aktiv: Der 26-jährige Edgar K., der noch bei seinen Eltern wohnte und im Gegensatz zu den anderen Angeklagten eine Anstellung als Kontrollor bei der „Staatlich genehmigten Gesellschaft ‚Autoren, Komponisten und Musikverleger‘“ vorweisen konnte, wurde im Vereinslokal des Nationalsozialistischen Kraftfahrkorps (NSKK) in der Klagbaumgasse im 4. Bezirk festgenommen. Edgar K. war nicht nur seit August 1934 Mitglied der damaligen „Motor-SA“, sondern auch seit März 1937 – also noch in der Zeit des Verbots der NSDAP in Österreich – Mitglied des NSKK, einer paramilitärischen Unterorganisation des NSDAP. Auch er hatte neben Strafen wegen Diebstahls eine Verurteilung nach § 129 Ib in seinem Vorstrafenregister. Auch er kam wegen eines in Leopold Rufs Wohnung vorgefundenen Zettels mit seinem Namen in die Verfolgungsmaschinerie der Gestapo, wo er zunächst Folgendes zu Protokoll gab. Er sei mit dem Beschuldigten vor etwa drei Monaten in der Weinhalle „Grenadier“ auf dem Getreidemarkt zufällig ins Gespräch gekommen. Man habe sich gut unterhalten und habe vereinbart, dass man sich wieder treffen wolle. Deshalb habe er Ruf den Zettel mit seiner Adresse gegeben. Insgesamt hätte er Ruf dreimal getroffen, die Frage, ob er Ruf verdächtigt habe, homosexuell zu sein, verneinte er: „Auf die Frage, ob mir bekannt war, dass Ruf ein Homosexueller ist, erkläre ich, dass dies bestimmt nicht der Fall war und bin ich auch nach dem dreimalligen Beisammensein mit ihm nicht zu dieser Annahme gelangt. […] Was meine sexuelle Einstellung anbelangt, so erkläre ich, vollkommen normalgeschlechtlich veranlagt zu sein.“
In der folgende Woche wurden Leopold Ruf und Edgar K. immer wieder vorgeführt und erneut verhört. Unvorsichtigerweise erzählte Ruf in einer Vernehmung, dass er einmal K. in dessen Wohnung besucht hatte, wobei er gleichgeschlechtliche Handlungen weiterhin abstritt. Auch Edgar K. leugnete weiter standhaft. Doch vermerkte Kriminal-Revier-Inspektor Karas nach einem Verhör, dass Edgar K. „einen gänzlich unglaubwürdigen Eindruck macht und ist ihm auf keinen Fall hinsichtlich seiner Angaben, er habe sich mit Ruf in keiner Weise homosexuell betätigt, Glauben zu schenken. Er hat bei dieser Vernehmung, wie festgestellt wurde, die ganze Zeit hindurch einen Gewissenskampf geführt und war dem Anschein nach daran, ein Geständnis abzulegen.“
Das Leugnen nutzte ihm vorerst nichts. Im Schlussbericht der Geheimen Staatspolizei, Staatspolizeileitstelle Wien vom 4. Oktober an die Staatsanwaltschaft beharrte der Kriminalbeamte Gaida auf dem „Verdacht der homosexuellen Betätigung“ gegen Edgar K.. Nach bis zu drei Monaten Gestapohaft und zahlreichen Verhören wurden die Verdächtigen in die Untersuchungshaft im Landesgericht eingeliefert. Das Verfahren gegen Rudolf K. wurde, da dieser die ihm zur Last gelegten Straftaten vor Vollendung seines 18. Lebensjahres begangen hatte, an das Jugendgericht zugewiesen.
Weitreichende Folgen sollte die abschließende Beurteilung Gaidas für Leopold Ruf haben: „Leopold Ruf, der wegen homosexueller Betätigung und wegen gröblicher Verletzung der Sittlichkeit gemäss §§ 129 Ib und 516 St.G. mit 6 Wochen Arrest bedingt vorbestraft ist, bedeutet durch seine hemmungslose widernatürliche Betätigung eine Gefahr für die öffentliche Ordnung, hauptsächlich jedoch für die Jugend, da er wie aus dem ganzen Vorgang ersichtlich ist, durchwegs junge Leute zu unzüchtigen Handlungen verführt hat, resp. zu verleiten suchte.“ Noch bevor das Verfahren am 26. Oktober überhaupt eröffnet worden war, forderte die Gestapo im Zuge ihrer Anzeige an die Staatsanwaltschaft des Landesgerichts Wien I am 21. Oktober, Leopold Ruf „nach Verbüssung seiner Strafe, bezw. vor seiner eventuellen Entlassung, dem Polizeigefangenenhaus IX., Rossauerlände 7 zur Verfügung der Geheimen Staatspolizei überstellen zu lassen.“ Mit einem sogenannten „Rücküberstellungsbescheid“, den sowohl die Gestapo- als auch die Kripoleitstelle ausstellen konnte, wurden „Vorbeugemaßnahmen“ gegen vermeintlich unverbesserliche und daher für die Gesellschaft gefährliche Homosexuelle eingeleitet, die letztendlich zu einer Einlieferung in ein Konzentrationslager führen konnten. Bezüglich der Mitbeschuldigten wurde von der Rücküberstellung Abstand genommen.
Vor Gericht
Nach der Anklageerhebung begannen die Vernehmungen durch den zuständigen Richter. Leopold Ruf bekannte sich schuldig und bestätigte alle in den Gestapoverhören erhobenen Vorwürfe. Anders Edgar K., der auch vor dem Untersuchungsrichter seine Unschuld beteuerte und dabei einige Frauen namhaft machte, mit denen er „regelmässig Geschlechtsverkehr“ hatte. Auch wenn nach der darauffolgenden Einvernahme einer der genannten Frauen beim Richter noch Zweifel blieben, konnte Edgar K. diese in einer weiteren Vernehmung entkräften. Auch die Aussage des Sturmführers des NSKK, wonach Edgar K. im „Sturmlokal“ ständig wegen „Weibergeschichten“ auffiel, führte schließlich dazu, dass am 12. Dezember 1938 das Verfahren gegen ihn eingestellt und er aus der Untersuchungshaft entlassen wurde. Sein weiteres Schicksal ist unbekannt.
Die Vernehmung der Angeklagten Karl T. verzögerte sich, da er laut Auskunft der Gestapo wegen Überfüllung des Gefängnisses zwischenzeitlich „in ein Konzentrationslager des Altreiches abgegeben“ worden war, von wo er erst wieder nach Wien gebracht werden musste. Auch er bekannte sich schließlich schuldig. Das Verfahren gegen Rudolf K. wurde vom Jugendgerichtshof am 2. November wieder an das Landgericht für Strafsache I zurücküberwiesen und dem Verfahren gegen Ruf und Karl T. eingegliedert. Rudolf K. betonte bei seiner Einvernahme durch den Untersuchungsrichter erneut, dass er sich „bestimmt nicht aus eigenem Antrieb homosexuell betätigt“ hätte. Am 8. Dezember 1938 wurde Anklage gegen alle drei erhoben.
Am 16. Jänner 1939 wurde am Wiener Landesgericht I unter dem Vorsitz von Landesgerichtsrat Dr. Watzek die Hauptverhandlung von Richter Dr. Wenger unter Beiziehung von zwei Schöffen eröffnet. Die Urteile ergingen am selben Tag. Zwar plädierten die Verteidiger der drei Angeklagten für Leopold Ruf auf die „Anwendung des a.o. Milderungsrechts und milde Bestrafung“, im Fall von Karl T. auf „Freispruch oder doch milde Bestrafung“ und im Fall von Rudolf K. auf eine „bedingte Verurteilung“, wurden alle zu zum Teil hohen unbedingten Kerkerstrafen verurteilt. Karl T. erhielt drei Monate schweren Kerker, wobei neben dem Geständnis mildernd in Betracht gezogen wurde, „daß er der verleitete passive Teil gewesen ist.“ Rudolf K. wurde zu 2 Monaten schwerem Kerker verurteilt, wobei laut Beratungsprotokoll der vorsitzende Richter drei Monate geben wollte, von den anderen aber überstimmt wurde. Karl T., dem die Untersuchungshaft angerechnet wurde, wurde auf freien Fuß gesetzt, weil er seine Strafe mit der U-Haft bereits verbüßt hatte. Rudolf K. wurde nach der Verbüßung seiner Haftstrafe entlassen. Das weitere Schicksal der beiden ist unbekannt.
Anders bei Leopold Ruf. Er wurde zu der verhältnismäßig hohen Strafe von fünfzehn Monaten schwerem Kerker verurteilt. Zwar wurden „das Geständnis, die widernatürliche Veranlagung [und] die Unbescholtenheit“ als mildernd gewertet, strafverschärfend waren aber die „Wiederholung der verbrecherischen Handlungen mit mehreren Personen durch einen längeren Zeitraum, die Verleitung und insbesonders die Verleitung eines Jugendlichen.“ Leopold Ruf wurde als „Jugendgefährder“ eingestuft und nach Verbüßung seiner Haft am 2. Oktober 1939 an die Gestapo Wien rücküberstellt, die nun „Vorbeugemaßnahmen“ gegen ihn einleitete.
Einlieferung ins Konzentrationslager
Leopold Ruf wurde am 25. Dezember 1939 um 18.00 Uhr, wie im Eingangsbuch vermerkt ist, mit anderen Häftlingen aus Wien, Linz und Salzburg im Konzentrationslager Sachsenhausen aufgenommen. Er wurde zu einem Zeitpunkt ins KZ Sachsenhausen eingeliefert, als gerade ein neuer Kommandant die Lagerleitung kommissarisch übernommen hatte. SS-Oberführer Hans Loritz eilte aus den Lagern Esterwegen und Dachau der Ruf eines rücksichtslosen und brutalen Schlägers voraus. Unter seiner Führung nahmen ab Anfang 1940, einem harten Winter mit bis zu minus 25 Grad, die Misshandlungen der Häftlinge, gezielt auch der Homosexuellen, drastisch zu. „Gezielte Tötungsmethoden wie das Übergießen mit kaltem Wasser und danach stundenlanges Stehen im Freien“ trafen alle Häftlinge, homosexuellen Häftlingen wurde zudem eine Sonderbehandlung zu Teil. Rudolf Höß, der spätere Kommandant von Auschwitz, hatte vermutlich als Schutzhaftlagerführer in Sachsenhausen die Verlegung der Homosexuellen in die Strafkompagnie im Bereich „Isolierung“ veranlasst. In diesem, mehrere Baracken umfassenden, vom restlichen Lager durch Stacheldraht abgetrennten Teil wurden vornehmlich sogenannte Berufsverbrecher und andere „Vorbeugehäftlinge“, darunter die Homosexellen, interniert. Seit Juni 1939 ist in der Strafkompagnie erstmals ein eigener Block mit sogenannten „175er“ (benannt nach dem Paragrafen, der männliche Homosexualität im Deutschen Reich pönalisierte) nachweisbar. Homosexuelle „kamen automatisch in die Strafkompagnie und verblieben dort, bis sie entweder auf Transport in ein anderes Lager kamen oder in Sachsenhausen starben.“ Denn die Homosexuellen mussten in der Tongrube des Groß-Klinkerwerks oder anderen Strafkommandos Zwangsarbeit leisten, was in den meisten Fällen zu ihrem baldigen Tod führte. Viele 175er-Häftlinge wurden außerdem von der Lager-SS misshandelt, kastriert und zu Tode geprügelt.
Da die Einweisung homosexueller Häftlinge, die als Neuzugänge ins Lager kamen, in die Strafkompagnie Standard war, ist anzunehmen, dass auch Leopold Ruf in einen „175er„-Block eingewiesen wurde. Dort traf er vielleicht auf einen anderen Wiener, der wenige Wochen nach ihm ebenso als Homosexueller interniert wurde: Josef Kohout. Der 25-jährige Postbeamte aus dem 9. Bezirk, der drei Konzentrationslager überleben würde, wurde 1971 bekannt, als unter dem Pseudonym „Heinz Heger“ der erste Tatsachenbericht eines homosexuellen Häftlings unter dem Titel „Die Männer mit dem rosa Winkel“ erschien. Darin erzählte Josef Kohout von seiner Gefangenschaft und dem Schicksal der „Rosa-Winkel-Häftlinge“ in den nationalsozialistischen Konzentrationslagern. Homosexuelle wurden in vielen Konzentrationslagern mit einem rosa Stoffdreieck gekennzeichnet, damit sie von anderen Häftlingsgruppen wie etwa den mit roten Winkeln gekennzeichneten Politischen, den schwarzen „Asozialen“ oder den grünen „Kriminellen“ leicht unterschieden und leichter isoliert werden konnten.
Eindringlich schilderte Josef Kohout die Zwangsarbeit in der „Menschenvernichtungsfabrik“ Tongrube, wo die Häftlinge der „teuflischen Vernichtungsmaschinerie der SS“ hilflos ausgelliefert waren: „Je fünf bis sechs Häftlinge mußten mit Schaufeln die Loren mit Ton beladen, während andere Gruppen mit der gleichen Häftlingsanzahl die beladenen Loren bergauf schoben. Dazu gab es fast ununterbrochen Schläge der Capos und der SS, die mit Stockhieben die Arbeit beschleunigen wollten, zugleich aber ihrem sadistischen Trieb freien Lauf ließen.“ Doch auch außerhalb der Arbeitskolonne übten Capos, die „Blockältesten“, und SS-Aufseher ihre „Vollmacht über Leben und Tod“ aus und misshandelten wahllose Häftlinge. Im April 1940 kam es mit nachgewiesenen 19 homosexuellen Opfern zu einem Monat zu einem ersten Höhepunkt der Mordaktionen an Homosexuellen im KZ Sachenhausen. Für den Zeitraum von April 1940 bis April 1943 geht die Forschung von insgesamt 600 getöteten Homosexuellen aus. Einer von ihnen war der zu diesem Zeitpunkt 55-jährige Wiener Leopold Ruf.
Laut einer „schriftlichen Anzeige des Lagerkommandanten des Lagers Sachsenhausen“ an das zuständige Standesamt in Oranienburg war Leopold Ruf „am 14. April 1940 gegen 4 Uhr“ verstorben. Als Todesursache wurde „Freitod durch Erhängen“ angegeben. Ob es sich dabei um die tatsächliche Todesursache handelte, muss offen bleiben, doch vermutlich setzte Leopold Ruf seinem Leben ein Ende, um dem Martyrium des KZ Sachsenhausen zu entkommen.
(Text: Andreas Brunner)
Quellen/Literatur
Alle kursiv gesetzten Textstellen sind Zitate aus den Quellen oder der verwendeten Literatur. Für Beteiligte deren Name abgekürzt ist, gelten die im Wiener Archivgesetz festgeschriebenen Vorschriften für die Anonymisierung personenbezogener Daten.
Strafverfahren gegen Leopold Ruf u.a., Landesgericht I Vr 5989/1938, Digitale Kopie QWIEN Archiv. Die Originale der Strafakten befinden sich im Wiener Stadt- und Landesarchiv.
Bestätigung des Eintrags von Leopold Rufs Tod im Sterbebuch des Standesamts Oranienburg Arolsen vom 7. 7. 1948, Archiv des Internationalen Zentrums für NS-Opfer/Arolsen Archives, Document 1.1.38.1_4131915
Joachim Müller/Andreas Sternweiler (Hg.): Homosexuelle Männer im KZ Sachsenhausen. Berlin 2000 (Zitate S. 42 und S. 55)
Heinz Heger: Die Männer mit dem rosa Winkel. Gifkendorf (5. Aufl.) 2001