Das biographische Lexikon Mann für Mann von Bernd-Ulrich Hergemöller ist in einer überarbeiteten zweibändigen Ausgabe erschienen. Andreas Brunner und Hannes Sulzenbacher haben das Mammutwerk gelesen und erlauben sich eine kritische Würdigung.
Eigentlich ist es unfair sich einem Lebenswerk wie dem von Bernd-Ulrich Hergemöllers kritisierend zu nähern. Seit dreißig Jahren sammelt er biografische Überlieferungen über Männer, die wir heute salopp als schwul bezeichnen würden, und verfasst daraus biografische Kurzdarstellungen für sein umfassendes Lexikon. Inzwischen – er gibt zu die Forschungslage nicht mehr allein zu überblicken – hat er Mitarbeiter, die ihn in seinen Bemühungen unterstützen. Gegenüber der letzten 2001 als Suhrkamp Taschenbuch veröffentlichten Ausgabe hat sich der Umfang des Lexikons deutlich vergrößert. Etwa 1.800 Männer finden Eingang in Mann für Mann, von diesen sind fast 500 Kurzbiografien von Angeklagten wegen widernatürlicher Unzucht, die zwischen 1819 und 1924 in deutschen Fahndungsblättern ausgeschrieben wurden. Weitere 650 umfassten Kurzbiografien von Männern, deren Biografien zum Großteil nicht mehr recherchierbar sein werden: Opfer der nationalsozialistischen Verfolgung oder zahlreiche Opfer von Aids, deren Einträge meist auf Basis von Nachrufen in Szenemagazinen verfasst wurden und dementsprechend lückenhaft sind. Und gerade in dieser fast inflationären Anhäufung von Kurzbiografien liegt, schon vorab festgehalten, ein Problem der Neuauflage des Lexikons, auch wenn sich Hergemöller im Vorwort freut, durch die Auswahl des Münsteraner LIT-Verlags „vor Kürzungsbefehlen, inhaltlichen Eingriffen, dem ‚Korrekturprogramm‘ der modernen Rechtschreibung und der Trennungswillkür der Setzer geschützt“ gewesen zu sein. Übrig bleiben etwa 700 Artikel mit umfassenden Biografien von Männern, die Männer liebten. Da die Begriffe „homosexuell“ oder „schwul“ relativ jung sind und sich auch viele Männer, die heute zu den bekanntesten „Schwulen“ zählen, nicht mit diesen identifizieren konnten (man denke an Thomas Mann oder an Erzherzog Ludwig Viktor), definiert Hergemöller die Kriterien für die Aufnahme relativ offen. Wie schon im Untertitel des Lexikons festgehalten wird, steht die Geschichte der Freundesliebe und mannmännlichen Sexualität im deutschen Sprachraum im Mittelpunkt. Das führt zu Einträgen – und wir bleiben hier bei österreichischen Beispielen -, die für ein allgemeines Lesepublikum überraschend, ja irritierend sein werden. Zu nennen wären hier etwa Ludwig van Beethoven oder Franz Grillparzer.
Bereits 1964 erregte das Wiener Ärzte-Ehepaar Editha und Richard Sterba Aufsehen mit ihrer psychoanalytischen Deutung der Beziehung Beethovens zu seinem Neffen Karl, die „als Ausdruck freigesetzter Homosexualität zu interpretieren sei“. Anstatt aber diesen spekulativen biografischen Interpretationsansatz kritisch zu hinterfragen, sammelt Hergemöller „Belege“ für – ja was eigentlich? – für Beethovens gestörtes Verhältnis zu Frauen oder für seine Freundeskreise, die sich hauptsächlich aus Männern zusammensetzten (kein Wunder bei der gesellschaftlichen Stellung von Frauen zu Beethovens Zeit). Und er schreibt Beethoven „in Wien ein intensives Bedürfnis nach Männerfreundschaft“ zu. Nachvollziehbare Belege bleibt er für all dies schuldig. Indes ist die Aufnahme Beethovens in das Lexikon „Mann für Mann“ natürlich zulässig, denn auch Gerüchte über Männer führten oft zu Zuschreibungen, die es zu überliefern aber zu hinterfragen gilt. Doch gerade diese kritische Hinterfragung der Quellen unterbleibt beim Beethoven-Artikel Hergemöllers, ähnlich wie beim Grillparzer-Eintrag des Lexikons. Fünf Spalten braucht Hergemöller, um bei Grillparzer nichts zu beweisen. Als junger Mann hat er ein paar schwärmerische Freundschaften gehabt, bei der zu Georg Altmüller, einem späteren Professor am Polytechnikum, „entflammte seine [Grillparzers] Eifersucht“, nachdem er heimlich in Altmüllers Tagebuch gelesen hatte, dass dieser seine Freundschaft nicht exklusiv Grillparzer widmete. Diese Episode in Grillparzers Jugend ist einer der vielen Belege für Grillparzers neurotischen Umgang mit Menschen, aber mitnichten einer für „Freundesliebe“ oder gar ein Begehren von Seiten Grillparzers. Hergemöller zählt eine Reihe von Belegen für „einen unüberwindlichen Haß auf alles ‚Widernatürliche‘ und Effeminierte’“ interpretiert aber diese „tiefe Abneigung“ Grillparzers „unschwer als Projektion des Selbsthasses“. Mit diesem hanebüchenen Argument kann ich alles beweisen, weshalb man Grillparzer „weder gerecht“ werden kann, wenn man „ihn in die Riege der ‚berühmten Homosexuellen’“ einreiht, noch wenn man ihn „den zärtlichen und schüchternen Frauenliebhabern“ zurechnet. Dass auch noch Grillparzers von „langatmigen trockenen Dialogen und Reflexionen“ erfüllten Dramen die „Grundelemente seines unerfüllten Seelenlebens“ widerspiegeln, ist als Summe der Erkenntnisse dann auch ausgesprochen dürftig. Manchmal haben mitdenkende Lektoren und Verleger mit Widerspruchsgeist eben doch einen Sinn.
Was Hergemöllers Lexikon auch für Österreich-Interessierte lesenswert macht, sind Biografien wie jene des frühen Aktivisten Franz Xaver Gugg, die mithilfe Kurt Kricklers von der HOSI Wien entstanden ist, in früheren Auflagen hatte Gugg gefehlt. Auch der Eintrag über Ludwig Wittgenstein geht der Frage, wie verkrampft die Geschichtsschreibung mit Wittgensteins sexuellen Vorlieben umging, nach. Seine Herkunft mit den Worten „entstammte der alten, jüdischen Textilhändlerfamilie Mejer“ zu beschreiben und seinen Vater als „ev. Stahlwerkdirektor“ zu bezeichnen, hinterlässt dann aber doch ein schiefes Bild über die Familie eines der reichsten Industriemagnaten Europas.
Was Hergemöllers Lexikon ärgerlich macht: Es kommt großspurig als „deutschsprachig“ daher und meint doch über weite Strecken nur Deutschland, da österreichische Forschungsergebnisse entweder ignoriert werden, oder eine grundsätzliche Ahnungslosigkeit über Österreich zu großen Lücken führt. Selbst ein verdienstvoller Lexikonbeitrag, wie jener von Axel Schock über den Theaterdirektor und Regisseur Hans Gratzer gerät dabei recht farblos, weil der Berliner Autor die Bedeutung Gratzers für das Wiener Theater nur bruchstückhaft erfassen kann. Daneben findet man etwa eine höchst spekulative, psychoanalytische Deutungshilfen bemühende Biografie über den österreichischen Militär und Freund (?) von Erzherzog Ludwig Viktor Edmund Glaise von Horstenau, oder – bleiben wir beim Buchstaben G – einen völlig sinnlosen Lexikoneintrag über den österreichischen Schriftsteller Franz Karl Ginzkey. Der Schöpfer des rassistischen Kinderbuchs „Hatschi Bratschis Luftballon“, das Hergemöller nicht einmal erwähnt (hat ja auch nichts mit seinem Interesse an Ginzkey zu tun, dass Ginzkey ein typischer österreichischer „All-Regime-Opportunist“ war, zuerst strammer Austrofaschist, dann ebenso strammer Nationalsozialist und im Nachkriegsösterreich als Schöpfer des Textes der Niederösterreichischen Nationalhymne hochverehrt). Er findet sich in diesem Lexikon der mannmännlichen Liebe wieder, weil er sich „während seiner Kadettenausbildung […] [in] einen ‚kleinen rosigen Kerl‘, der im Schülertheater die ‚Braut‘ spielte“ verliebt haben soll – eine recht dünne Suppe.
Das wäre ja alles nicht so tragisch, wären die Fehlstellen bezüglich Österreich nicht so eklatant. Der Opernsänger Hanns Beer, „über dessen weiteres Schicksal“ laut Hergemöller bisher nichts bekannt ist, wurde nach dem „Anschluss“ in Österreich verhaftet, ins KZ verschleppt, aus diesem aber von Winifred Wagner gerettet (da hätte eine einfache Spiegel-Online-Suche gereicht, um das zu erfahren). Fehler wie dieser können beim Mammutprojekt eines über 1.700 Seiten dicken Lexikons schon passieren, aber die zahlreiche Auslassung wirken viel schwerer, zumal es sich bei allen in Folge erwähnten um gut dokumentierte Beispiele handelt. Weil wir schon bei Beer sind: Was ist mit dem Wiener Privatdozenten Theodor Beer, der 1906 wegen Unzucht wider die Natur zu einer Kerkerstrafe inklusive Aberkennung der akademischen Würden verurteilt wurde? Über den hat schon Karl Kraus geschrieben und selbst in Capri gibt es einen Aufsatz über ihn. Was ist mit dem österreichischen Dichtern Alfred Grünewald, der aus dem französischen Exil von den Nazis in ein Vernichtungslager verschleppt wurde? Erstaunlicherweise führt Hergemöller dessen bislang der Homosexualität unverdächtigen „Nachlassverwalter“ Jan Otto Tauschinski an, obwohl sich „weder aus seiner Biographie noch aus seinem (bislang veröffentlichten) Werk […] Aussagen zu persönlichen Neigungen ableiten“ lassen. Nur ein ungenannter persönlicher Freund gilt als Zeuge, dass Tauschinski „der reinste und angenehmste Typus des Homosexuellen, gepflegt, schönheitssinnig […]“ war – na dann wird’s ja wohl stimmen. Es sei nur angemerkt, dass sich Tauschinski in einem im Ausstellungsstellungskatalog „geheimsache:leben“ publizierten Textausschnitt aus einem autobiografischen Manuskript etwa zu seinen homosexuellen Erfahrungen beim „Wandervogel“ geäußert hat. Aber nicht nur das Fehlen Grünewalds, der als Dichter wesentlich bedeutender als Tauschinski ist, schmerzt, die Liste lässt sich fortsetzten. Zwar findet Emil Maria Vacano Aufnahme, aber die zweite Hälfte des Zweigestirns der Dioskuren, wie sie in einem Gedicht genannt werden, Graf Emerich von Stadion, fehlt hingegen. Den Jahrhundertwendefotograf Paul Pichier, dem QWIEN schon 2007 eine große Ausstellung widmete, wird man ebenfalls vergeblich suchen. Dass Hergemöller nach wie vor falsch das Pseudonym Homunculus mit dem Wiener Humoristen Robert Weil auflöst, ist unverständlich. Ein Blick in dessen Werk hätte reichen müssen, um zu wissen, dass der Wiener Autor mit dem Pseudonym Homunculus nie und nimmer einen „schwulen“ Roman geschrieben haben kann. Es gab eben einfach mehrere Autoren, die sich dieses Pseudonyms bedient haben.
Der „österreichische Gründgens“ Raoul Aslan, der Modeschöpfer Fred Adlmüller, Viktor von Habsburg – die Liste der fehlenden Österreicher ließe sich fortsetzen. Wirklich ärgerlich ist aber der Umgang mit schwulen Männern, die an den Folgen ihrer HIV-Infektion gestorben sind. Da erinnert sich Hergemöller offenbar derer, die ihm zufällig in Szenemagazinen aufgefallen sind. Wichtige österreichische Opfer, die auch die Auseinandersetzung mit HIV und Aids in Österreich wesentlich geprägt haben, fehlen: Rainer Brandstätter, Michael Handl, Hannes Pähler oder der in Linz geborene Michael Pollack, der zu den theoretischen Wegbereitern der Oral History gehörte. Ebenso unverständlich ist die Auswahl angeführter Opfer des nationalsozialistischen Terrors. Da als Quelle meist die Publikation Schwule in Auschwitz angeführt ist, ist zu vermuten, dass es nur eine sehr reduzierte Auswertung von Arbeiten über die NS-Zeit gegeben hat. Über zahlreiche Lager liegen inzwischen ausführliche Studien vor, die offenbar keine Beachtung fanden. Liest man den Eintrag zu Peter Jacobi fragt man sich überhaupt, welche Relevanz dessen Aufnahme in dieses Lexikon hat. Der 5-zeilige Eintrag berichtet von der Ermordung des Berliner Senatsbeamten Jacobi durch Unbekannte, die möglicherweise in Zusammenhang mit dessen Aids-Erkrankung stand. Ähnlich spekulativ wie der Eintrag ist auch die Quelle, ein Artikel der BILD-Zeitung. Soll damit belegt werden, dass Schwule Mordopfer werden können? Da könnten wir noch zahlreiche besser belegte Schicksale nachliefern. Da beginnen bei aller Bewunderung für das Lebenswerk von Bernd-Ulrich Hergemöller doch Zweifel, da wurde innerhalb eines Jahrzehnts aus einem dicken Lexikon-Band mit Biografien ein zweibändiges, zweihundert Euro teures Prestigeprojekt, im Grunde unvollständiger als die Erstausgaben, weil etwa durch die halbherzige und in den Kriterien nicht nachvollziehbare Aufnahme von Aids-Opfern und Opfern des NS-Terrors für unbedarfte BenutzerInnen des Lexikons der Eindruck einer durchdachten Auswahl vorgegaukelt wird. Ähnlich wie durch den anmaßenden Untertitel, dass das Lexikon tatsächlich den „deutschen Sprachraum“ erfasse. Über ein so aufwändiges und durch jahrelange Recherche erstelltes Werk mag man in gewisser Hinsicht nicht mosern. Und Hergemöller bedankt sich schon im Vorwort für die Hilfestellungen seiner LeserInnen, die er seit den früheren Auflagen des Lexikons erfahren hat. Diesen LeserInnen sei gesagt: Machen Sie weiter so! Denn es scheint, aus einem Buch, das bei seinem ersten Erscheinen der Schaffung von Selbstverständlichkeit von Homosexuellen und Homosexualität in der Geschichte dienen sollte, und das zu seiner Zeit ambitioniert und überfällig war, ist eine nach nicht nachvollziehbaren Kriterien erstellte Sammlung von Biografien geworden, die auf Wikipedia oft genauer recherchiert und belegt werden. Deren massenhafte Vermehrung geschieht offenbar ziellos und zufällig und dient der Selbstlegitimation und Immunisierung. Das Beharren auf der alten Rechtschreibung ist da nur ein Symptom.
Bernd-Ulrich Hergemöller (Hrsg): Mann für Mann. Biographisches Lexikon zur Geschichte von Freundesliebe und mannmännlicher Sexualität im deutschen Sprachraum. Unter Mitwirkung von Nicolai Clarus, Jens Dobler, Klaus Sator, Axel Schock und Raimund Wolfert neubearbeitet und ergänzt von Bernd-Ulrich Hergemöller. 2 Bände, 1744 S. Münster: LIT-Verlag 2010 (erhältlich bei Löwenherz)