Jürgen Pettingers Biografie „Franz: Schwul unterm Hakenkreuz“ erobert die Medienwelt. Warum das Buch als erschütterndes Dokument gegen das Vergessen gehandelt wird, beleuchten wir in dieser Buchrezension. Von Evangelista Sie
Wien, Handelskai 208. Am Sonntagnachmittag, 26. Mai 1940, wird Franz Leopold (Josef) Doms zum ersten Mal von der Polizei abgeholt. Er ist 17 Jahre alt. Sein Verbrechen ist ein One-Night-Stand mit einem Mann.
Er gab mir, nachdem ich mich mit seinem Gliede bis zum Samenerguss spielte und er mein Gliede gelutscht (geblasen) hatte, 5 Reichsmark. Außerdem zahlte er mich eine Zirkuskarte und ein Bier.
Franz Doms, Geheime Staatspolizei (Verhörungsprotokoll), 13. Juni 1940(Pettinger: 2021: 48)
Franz Doms schämt sich für die Details, die er der Gestapo nennt, und hofft, dass es vorbei ist. Doch diese Verhaftung ist Franz‘ erste, weitere folgen in den kommenden drei Jahren.
Franz‘ engste Vertraute, seine Schwester Josefine, erlebte die Verfolgung ihres Bruders ebenso mit wie dessen Annäherung an die Homosexuellenszene im Wien in der frühen 1940er-Jahre und seine Beziehung zu einem jungen Mann namens Kurt. Das Buch zeichnet die Gefahr des Denunziert-Werdens durch Männer aus der Szene nach, zeigt Franz bei den Verhören durch den Kriminalassistenten Karl Seiringer und begleitet ihn durch das Leben in der Gefängniszelle und vor den Richter.
Der Angeklagte wird als gefährlicher Gewohnheitsverbrecher wegen widernatürlicher Unzucht mit 18 Männern, meistens gegen Entgelt, wegen Diebstahls und Erpressung zum Tode verurteilt.
Sondergericht beim Landesgericht Wien, Urteilsbegründung, 10. November 1943(Pettinger: 2021: 161)
Am 7. Februar 1944 wird Franz Doms im Landgericht Wien hingerichtet. Er ist 21 Jahre alt.
Dem Autor Jürgen Pettinger gelingt es, die Figur Franz Doms außerhalb der polizeilichen Verhörprotokolle mehrdimensional zum Leben zu erwecken. Dazu verwebt Pettinger Fakten mit Fiktion und füllt die nicht überlieferten Tatsachen mit bildhaften Szenen und Dialogen, welche die handelnden Personen greifbarer und spürbar machen.
Entsprechend dem Genre bleibt teils fraglich, inwieweit Franz Doms die beschriebenen Emotionen und Momente (wie zum Beispiel die Tage in der Haftzelle) in der Form und nicht anders als in Pettingers Interpretation seiner Rechercheergebnisse durchlebte.
Nichtsdestoweniger zeichnet das Buch ein genaues Bild des gesellschaftlichen Umfelds, in dem sich die Charaktere bewegen, die Spezifika ihrer Klasse und die Besonderheiten der Verfolgung von Homosexuellen zu dieser Zeit. So erleben wir, wie Kriminalassistent Seiringer Franz nach und nach in das Schneeballsystem der Kripo hineinzieht, welches aus den wegen ihrer Homosexualität verhafteten Personen weitere Namen herauszupresst. Wir bewegen uns mit Franz zu den Treffpunkten von homosexuellen Männern im Wien der 1940er-Jahre wie dem Römerbad.
Wir sehen am Beispiel von Franz und seinem Umfeld, wie die Verfolgung von Homosexuellen zu dieser Zeit fast ausschließlich Männer und Frauen aus ärmeren Gesellschaftsschichten trifft. Denn anders als Betroffene aus gehobenen Gesellschaftsschichten besitzt Franz keine sicheren Privaträume, in denen er andere Männer treffen könnte. Vielmehr lebt er im Elternhaus auf engem Raum (und seine Kontakte zur Untermiete auf ebenfalls überschaubaren Räumen) unter ständiger Beobachtung der Nachbar:innen.
Vor diesem Hintergrund besucht Franz einschlägige, öffentliche Treffpunkte, um seinem jungen Begehren nachzugehen. Dabei schützen die zu dieser Zeit üblichen Decknamen unter den Männern, die erschweren sollen, einander bei der Polizei zu verraten, Franz nur bedingt. So erleben wir mit, wie Franz nach und nach bewusst wird, in welcher Lebensgefahr er sich befindet.
Zur Beschreibung der Ereignisse verwendet Pettinger eine markante, trockene Sprache mit leichtem Einschlag ins Wienerische. Stellenweise, wie beispielsweise gegen Ende des Buches, nehmen die bildreichen Detailaufnahmen zu (z. B.: „Er sitzt aufrecht auf seiner Pritsche und wird durch das Fenster in seinem Rücken vom hellen Licht der Mittagssonne überstrahlt“), als versuchten sie das Unerträgliche weicher zu zeichnen.
Ein unvermittelter Wechsel am Höhepunkt der Erzählung zu Franz‘ Familie verstärkt diesen Eindruck. Dadurch scheinen Längen im Buch zu entstehen. Gleichzeitig schafft es die Erzählung gerade durch den Einbezug von Franz‘ Familie die entmenschlichenden Maßnahmen der Verfolgungsbehörden ans Tageslicht zu befördern.
Insgesamt ermöglicht Pettinger einen Einblick in die Welt eines jungen Mannes zwischen romantisch-sexuellem Begehren und strafrechtlicher Verfolgung, zeigt, was es bedeutet schwul zu sein unter dem Hakenkreuz und gibt den Tausenden wegen homosexuellen Handlungen verurteilten Männern ein stellvertretendes Gesicht: jenes von Franz Doms.
Jürgen Pettinger (2021): Franz. Schwul unterm Hakenkreuz. Wien: Kremayr und Scheriau.
Erhältlich bei der Buchhandlung Löwenherz.