Imke Interbieten hat die Neuauflage der Studie von Alexander Zinne für uns gelesen.
Diskussionen über die tatsächliche oder vermeintliche Homosexualität rechter Politiker*innen scheinen gegenwärtig ein vertrautes Phänomen zu sein. Der Autor Alexander Zinn nimmt in seinem Werk Schwule Nazis. Zur Genese und Etablierung eines Stereotyps eine sozialhistorische Perspektive auf das Thema ein. Es handelt sich um eine Neuausgabe, doch wie bereits in der Veröffentlichung von 1997 geht der Historiker und Soziologe der konstruierten Beziehung von Homosexualität und Nationalsozialismus auf den Grund.
In der neuen Ausgabe vorangestellt ist die Frage nach dem „realen Kern“ des Stereotyps. In diesem einleitenden Kapitel findet auch der aktuelle Forschungsdiskurs Gehör. Es folgen Ausführungen zu seiner Studie aus dem Jahre 1997. In vier Teilen analysiert Zinn das Vorurteil der ursprünglichen Verbindung von Nationalsozialismus und Homosexualität. Auf eine kurze Einleitung zum Gegenstand und Aufbau der Arbeit folgt ein Kapitel zur homosexuellen Emanzipationsbewegung. Anhand der relevantesten Erkenntnisse der zeitgeschichtlichen Forschung werden die historische Entwicklung sowie Homosexuellenbild und -politik zwischen 1897 und 1933 nachvollzogen. Den Kern seiner Untersuchungen finden wir im folgenden dritten Kapitel. In „Homosexualität im Exildiskurs“ wird die Entstehung und Etablierung des Stereotyps „Schwule Nazis“ zurückverfolgt. Die Untersuchung stützt sich auf die Auswertung von Exilliteratur, genauer auf der Analyse von 19 Exilperiodika unterschiedlicher politischer Ausrichtung. Der vierte Teil nimmt abschließend eine Analyse der Quellen aus soziologischer Perspektive vor.
Die Auswertung der Exilliteratur hinterlässt einen nachhaltigen Eindruck. Das zugrundeliegende Material ist nicht nur aufgrund des Umfangs und der inhaltlichen Breite beindruckend, sondern gelingt Zinn ebenso seine zielgerichtete Auswertung: Die Analyse zeigt präzise die Errichtung und Etablierung des Stereotyps vom homosexuellen Nationalsozialisten. Der Autor beschreibt die Studie in einigen einführenden Bemerkungen ihrerseits als „historisches Dokument“. Es wurde die Entscheidung getroffen, die bereits 1997 veröffentlichte Studie beinahe unverändert zu übernehmen. Hier offenbart die Konzeption der Neuauflage eine kleinere Schwachstelle. Für Gehalt und Aktualität des Gesamtwerks absolut notwendig ist die sehr gelungene Einführung zur Neuausgabe, die sich dem möglichen „realen Kern“ des Phänomens widmet. Der Transfer zwischen dieser Einbettung in den gegenwärtigen Forschungsdiskurs und der folgenden Studie liegt jedoch in der Hand der Leser*innenschaft.
Alexander Zinn: Schwule Nazis. Zur Genese und Etablierung eines Stereotyps. Frankfurt/New York: Campus 2025. (bei Löwenherz erhältlich)